Neuland unter den Sandalen. Christoph Müller
Читать онлайн книгу.hatte beschlossen, große Städte wie Genf zu umfahren. So bog ich schon bald nach Westen ab und überquerte die Grenze zu Frankreich. In Ferney erwies ich dem Schriftsteller Voltaire die Ehre, indem ich vor seiner Statue kurz vom Rad stieg. Er war zwar ein bissiger Kritiker und ein Antiklerikaler, aber die französische Sprache hat ihm ihre Schönheit und Perfektion zu verdanken. Die flache Ebene des Genfersees lag hinter mir. Nun begann für mich Neuland. Unbekannte Orte und Landschaften taten sich auf.
In Bellegarde suchte ich vergeblich nach einer Campingmöglichkeit, denn das Städtchen liegt eingeklemmt in einem tief eingeschnittenen Flussbett. Außerhalb des Ortes aber wies ein Schild auf einen nahen Zeltplatz hin. Zum Glück lag er in jener Richtung, in die ich sowieso weiterfahren wollte. Denn mit dem schweren Gepäck auf dem Fahrrad war jeder Umweg zu viel, und eine Steigung, die man aus irgendeinem Grund zweimal hinter sich bringen musste, glich einer kleinen Katastrophe.
Die Straße führte nun wieder stark bergwärts. Die Gegend wurde immer verlassener, und die Sonne war bald hinter einer Bergkuppe verschwunden. Ich staunte, als ich nach einer Kurve auf einen Imbiss von McDonalds stieß, der sich frech in die schöne Landschaft gesetzt hatte. Doch Hunger und Durst siegten über alle ästhetischen Bedenken. Für zwölf Euro gab es zwei große Salate mit verschiedenen Saucen und gebratenen Kartoffeln, dazu noch einen großen Becher Orangensaft. Der Zeltplatz selber aber lag etwas weiter entfernt an einem kleinen Abhang. Es war ein wunderschöner Standort mit vielen kleinen Hecken, und ich fand einen stillen, lauschigen Platz für mich allein. Bald hatte ich das Zelt aufgebaut, das ging schon rassiger vor sich als am Vortag. Nach einer verdienten Dusche und einer dankbaren Rückschau auf den Tag schlief ich müde, aber glücklich ein.
UNTER RATTEN UND RÄUBERN
7. Juli
Um 7.00 Uhr weckten mich schwere Brummer, die jene Straße hinaufkrochen, die ich bald selbst in Angriff nehmen würde. Ein ungutes Gefühl überkam mich, Angst machte sich breit. War die Straße nicht zu gefährlich? Würden die Lastwagen genug Rücksicht auf mich nehmen? Wäre es nicht gescheiter, das Rad auf die Bahn zu verladen und mir mehr Zeit für die Fußstrecke zu gönnen?
Aber einmal auf der Straße, verflogen die Bedenken rasch, und hinter Nantua eröffnete sich am gestauten Fluss Ain die Möglichkeit zu einem erfrischenden Bad. Um ans Wasser zu gelangen, musste ich erst das Rad ein kleines Stück hinunterschieben. Dann schwamm ich hinaus und bewunderte die Schönheit der Bäume, die sich am linken und rechten Ufer zum Fluss hinunterneigten und ihn gleichsam liebkosten.
Als ich wieder aufs Rad steigen wollte, war der hintere Reifen platt! Ich legte mich mit der Handpumpe kräftig ins Zeug. Aber schon nach kurzer Zeit war die Luft wieder draußen. Also schob ich das Rad zum Fluss zurück, denn für die Reparatur war ich auf Wasser angewiesen. Ich musste den Schlauch erst untertauchen, um anhand der aufsteigenden Blasen das Loch lokalisieren zu können. Endlich war es so weit. Mit schmutzigen Händen, aber frohgemut, ging es in der Mittagshitze weiter in Richtung Lyon. Ich beschloss, diese drittgrößte Stadt Frankreichs vorsichtshalber östlich zu umfahren, denn ich hätte wohl kaum wieder aus ihr hinausgefunden.
Neues Ungemach braute sich zusammen. Das Schalten ging immer mühsamer vor sich, und mit der Zeit reagierten die Gänge gar nicht mehr. Was mochte das bedeuten? Ein Augenschein brachte bald Gewissheit. Das Übersetzungskabel hing nur noch an einem seidenen Faden. Da gerade der mittlere der drei Gänge drin war, konnte ich nur mehr in diesem Gang weiterfahren. Noch lief es wie geschmiert. Das Rhônetal ist flach, und ich hatte starken Rückenwind. Wie von unsichtbarer Hand wurde ich vorwärts gestoßen.
Endlich näherte ich mich einer kleinen Stadt, deren Fahrradmechaniker jedoch seine Werkstatt bereits dichtgemacht hatte. Also beschloss ich, die idealen Windverhältnisse zu nützen und einfach weiterzufahren. Abends um 21.00 Uhr, nach über 50 Kilometern mit nur einer Übersetzung, erreichte ich die Stadt Vienne. Doch diese mittelalterliche Touristenstadt hatte keinen Zeltplatz. Weil die billigen Hotels alle belegt waren, blieb mir nichts anderes übrig, als weiter der Rhône entlang zu fahren, um irgendwo wild zu zelten.
In Gedanken versunken merkte ich gar nicht, dass ich mit meinem Rad auf eine Schnellstraße geraten war. Nun gab es kein Zurück mehr. Nur fünf Meter trennten mich von der idyllischen Rhône, an deren Ufer ein verwachsener Feldweg entlangführte. Hinter einer Gebüschgruppe hob ich kurzerhand mein Fahrrad mitsamt dem Rucksack über die Leitplanke und stellte dort, dem Dröhnen und den Scheinwerfern der vorbeifahrenden Autos und Motorräder trotzend, mein Zelt auf. Im Schutze des Gebüsches und der Dunkelheit nahm ich zwischen Algen und Abfall noch ein Bad in der Hoffnung, dass mich weder Ratten noch Polizisten entdecken würden. In banger Erwartung eines nächtlichen Überfalls versteckte ich mein Geld unter einem nahen Baum. So war wenigstens meine Reisekassa in Sicherheit. Noch längere Zeit hielten sich im Zelt Beklemmung und Müdigkeit die Waage, aber zuletzt obsiegte die Müdigkeit, und ich schlief ein.
EIN RETTENDER ENGEL
8. Juli
Erst mit dem Aufkommen des Werksverkehrs erwachte ich. In meiner Freude, diese Nacht heil überstanden zu haben, verzichtete ich gerne auf ein Morgenbad in der Rhône, zumal die Morgensonne den Grad der Verschmutzung schonungslos ans Licht brachte. Zum Zähneputzen reichte es gerade noch.
Schnell wurde das Zelt abgebrochen. Ich stieg wieder aufs Rad und fuhr, eingeklemmt zwischen Autostraße und Rhône, auf einem unkrautübersäten Schotterweg viele Kilometer dahin, bis ich mich plötzlich mitten auf einer Wiese befand. Ein guter Bauer führte mich wieder auf den rechten Weg.
Meine Hauptsorge galt nun der Reparatur der Gangschaltung. Schon bei der kleinsten Steigung musste ich vom Sattel steigen und das Rad schieben. Endlich näherte ich mich einem Städtchen mit einem großzügigen Fahrradgeschäft. Doch meiner Freude folgte sogleich eine herbe Enttäuschung: Ich hätte das Rad erst wieder in zwei Tagen abholen können! So lange wollte ich auf keinen Fall warten. Immerhin machte man mich auf eine kleinere Werkstatt aufmerksam. Schon von Weitem konnte ich sogar das Logo meiner Radmarke entdecken. Aber es folgte eine neue Enttäuschung: wegen Todesfall geschlossen!
Nein, ich konnte nicht warten. Unaufhaltsam zog es mich weiter. Und überhaupt: Bisher war es mit nur einem Gang auch nicht schlecht gegangen. Was ich allerdings nicht wissen konnte: Ich stand vor einer Bergetappe. Es ging von 300 auf 1100 Meter hinauf. Mit einem einzigen Gang war das eine völlig unmögliche Sache.
Ahnungslos fuhr ich los und wollte den Weg Richtung Annonay einschlagen. Doch zum Glück verpasste ich die richtige Abzweigung. Ich bog in eine kleine Seitengasse und stand plötzlich vor einem völlig unscheinbaren Radgeschäft. Ein freundlicher Mann war sofort bereit, mir das Kabel auszuwechseln. Schon nach einer halben Stunde händigte er mir mein Rad für wenig Geld wieder aus. Ich gab ihm ein fürstliches Trinkgeld, worüber er sehr erstaunt war. Für ihn waren es nur ein paar Handgriffe gewesen – für mich aber hing die weitere Pilgerfahrt von seiner Hilfsbereitschaft ab.
Mit neuem Elan schwang ich mich auf mein geduldiges Stahlross. Dass es nun stundenlang aufwärts ging und der Schweiß nur so dahinrann, störte mich überhaupt nicht. Hauptsache war, dass alles perfekt funktionierte!
Bei einer kleinen Poststelle kaufte ich einige Briefmarken. Der freundliche Postbeamte ließ mich Platz nehmen und offerierte mir großzügig Orangensaft und Mineralwasser. Einfach so. Ich muss wohl wie ein Verdurstender ausgesehen haben. Als ich endlich auf der Anhöhe ankam, öffnete sich mir eine bezaubernde Landschaft, die mich an das Einsiedler Hochmoor erinnerte. Die folgende Abfahrt ließ dann alle Strapazen vergessen und animierte mich zu lautem Gesang. Und bald wartete ein einfacher Campingplatz auf mich. In großem Frieden schlief ich ein, diesmal ganz ohne Angst vor Ratten, Polizisten und Räubern.
NIE WIEDER!
9. Juli
Als ich am Morgen das Zelt öffnete, saß bereits die junge Elster, mit der ich schon am Vorabend Bekanntschaft gemacht hatte, beim Zelteingang und