Neuland unter den Sandalen. Christoph Müller
Читать онлайн книгу.Es gab nichts Warmes, aber wenigstens Brot und Käse, Wasser und Wein. Das erschien mir nun wie ein kleines Wunder, wie vom Himmel gefallenes Manna, und aus lauter Begeisterung fotografierte ich alles. Sehr zum Erstaunen der Wirtin, die hinter der Theke stand und mir zwischen den Schnapsflaschen hindurch immer wieder einen misstrauischen Blick zuwarf. Nichts ließ ich übrig. Wasser- und Weinflasche wurden bis auf den letzten Tropfen geleert.
Leicht betrunken verließ ich den Imbiss und hatte es plötzlich gar nicht mehr eilig. Am Dorfplatz legte ich mich zur Siesta auf eine Bank. Ganz in der Nähe spielten einige Männer mit leidenschaftlichen Kommentaren Boules (Boccia). Alte Frauen, auf ihren Bänken sitzend, hatten einander unendlich viel zu erzählen, obwohl sie sich bestimmt täglich hier trafen. Trotz des Lärms fiel ich in einen tiefen Schlaf.
Als ich erwachte, taten mir die Glieder so weh, dass ich etwas Zeit brauchte, bis ich überhaupt aufstehen konnte. Noch schlaftrunken und halb gerädert, zog es mich doch wieder weiter. Noch vor Sonnenuntergang wollte ich Condom erreichen, eine weitere wichtige Etappe am Jakobsweg.
Ich freute mich sehr auf die spätgotische Kathedrale, von der ich so viel gehört hatte. In und um das Gotteshaus erwartete ich einen regen Pilgerstrom. Doch alles stand verlassen da. Nur ein einziger Pilger fand sich im ganzen Gotteshaus. Er kniete im Mittelgang und verharrte da mit ausgestreckten Armen.
Mein Gebet war viel kürzer als das seine. Es bestand nur aus dem ersten Vers des Psalms 42: „Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, so lechzt meine Seele Gott nach dir.“ In meinem momentanen Zustand lag die Betonung eher auf dem ersten Teil des Verses.
Auf dem Vorplatz gab es zwar eine Art Fontäne, aber dieses Wasser war nur zum Anschauen, nicht zum Trinken. Endlich wies mich ein Mädchen auf eine Brunnensäule in einem Innenhof hin. Was da zutage kam, war warm, sehr warm. Doch die Temperatur des Wassers war mir im Moment völlig egal. Ich trank gierig wie ein Kamel nach einer langen Wüstenwanderung.
Die Stadt schien wie ausgestorben. Alle Läden waren geschlossen. Zum Glück entdeckte ich eine Gelateria mit feinstem Eis. Ich kaufte mir eine große Kugel, die ich mit Andacht und Hochgenuss verzehrte. Es sollte nicht bei der einen bleiben. Die schmunzelnde Verkäuferin sah mich noch ganze drei Mal kommen.
In der Nähe gab es einen sehr bescheidenen Zeltplatz. Man konnte dort etwas trinken, aber zu essen gab es nichts. So gesellten sich zu den vier Eiskugeln in meinem Magen nur noch ein paar Haselnüsse und zwei gedörrte Zwetschgen, die ich zuunterst in meinem Rucksack fand. So blieb mir nichts anderes übrig, als hungrig zu Bett zu gehen.
Da entdeckte ich ganz in der Nähe meines Zeltes ein Auto mit Schweizer Kennzeichen. Landsleute! Das helvetische Ehepaar erfreute sich gerade eines feudalen Nachtessens. Der Campingtisch quoll über von Schüsseln mit feinsten Speisen. Und mittendrin thronte eine Flasche vom erlesensten Wein. Das war mehr als genug für drei Personen! Gleich einem hungrigen Hund, dessen Nase den Duft einer Wurst aufnahm, schlich ich zuerst um den Wohnwagen herum. Dann, mich möglichst locker gebend, überraschte ich die beiden mit einem charmanten, breiten „Grüezi“, um in ihnen einen Akt guter, eidgenössischer Solidarität zu wecken. Die Strategie ging in die Hosen. Die Berner hielten mich mit ein paar Belanglosigkeiten auf Distanz, und ich musste mit knurrendem Magen zu meinem Zelt zurück. Wenigstens der Schlaf hatte Mitleid mit mir. Und im Traum besuchte ich die Gelateria noch ein fünftes Mal.
IN DER ARENA
14. Juli
Am Vorabend hatten dunkle Wolken Regen angekündigt, aber das ersehnte feine Trommeln der Regentropfen auf dem Zeltdach blieb aus. Ein kurzer Blick aus dem Zelt ließ wieder einen heißen Tag erwarten. Meine vier Eiskugeln waren längst verdaut, und nichts Neues war an ihre Stelle getreten. So fuhr ich mit leerem Magen los. Bis zum Abend wollte ich die Stadt Pau erreichen, das Sprungbrett zu den Pyrenäen. Für die 110 Kilometer, die vor mir lagen, war ich hoch motiviert.
Nach 20 Kilometern konnte ich endlich einen Laden betreten. Speckbrot gab es da, Joghurt, Bananen und Orangensaft. Nach den Entbehrungen des Vortages kam ich mir plötzlich vor wie Gott in Frankreich! Ich bekam Flügel, und nichts konnte mich mehr bremsen. In Gedanken war ich bereits am Ziel.
Als ich durch ein Städtchen namens Nogaro fuhr und eine alte Kirche am Weg lag, stieg ich ab, um einen Moment innezuhalten. Bevor ich wieder auf mein Rad stieg, unterzog ich es einer kurzen Kontrolle. Da entdeckte ich zu meinem Schrecken, dass das Hinterrad nicht mehr rund lief und seitlich bei den Bremsen anstreifte. Eine Speiche war gebrochen! Immerhin hatte ich den Schaden hier entdeckt und nicht irgendwo unterwegs. Das hätte stundenlanges Schieben zur Folge haben können. Als ich bald eine Werkstatt fand, war ich froh.
Nur hatte ich völlig übersehen, dass der Kalender den 14. Juli schrieb: französischer Nationalfeiertag! Alle Läden waren geschlossen. Ich wusste nicht, was tun. Ziellos irrte ich durch den Ort.
Da entdeckte ich ein Plakat, das just für den heutigen Tag einen Stierkampf ankündigte. Diese Art der Unterhaltung entspricht zwar nicht meinem Geschmack. Aber ich wusste, dass man in Frankreich dem Stier kein Leid antut. So kaufte ich mir eine Eintrittskarte für stattliche 15 Euro. Es war schließlich eine günstige Gelegenheit, etwas Lokalkolorit zu erleben und mitten unter Leuten zu sein, an denen ich sonst immer nur vorbeifuhr.
Die Arena war schon voll besetzt, als ich sie betrat, und ich musste mit einem Platz an der prallen Sonne vorliebnehmen. Eine eigenartige Spannung lag in der Luft.
Zuerst spielte eine Musikkapelle auf. Unter ihren Klängen erschienen prächtig geschmückte Pferde und Reiter, die eine Ehrenrunde drehten. Dann konnte das eigentliche Spektakel beginnen. Ich wusste nicht recht, was mich erwartete. Endlich stürzte der erste „Stier“ in die Arena. In Wahrheit handelte es sich um eine feingliedrige, aber äußerst aggressive Kuh, der wohl irgendein Doping verabreicht worden war. Auf der einen Seite der ovalförmigen Arena waren Boxen, aus denen die kampfeslustigen Walküren herausstürmten. Auf der Gegenseite stand ein Mann hinter einer Barrikade. Er hielt einen Strick in der Hand, dessen anderes Ende um die Hörner der Kuh geschlungen war. Mit aller Kraft zog er das widerstrebende Tier zu sich. Dann gab er die Kuh plötzlich frei. Sie stürmte in die Mitte der Arena auf junge, weißgekleidete Männer zu, die, einer hinter dem anderen stehend, die heranbrausende Kuh regungslos erwarteten. Kurz bevor die wütende Bestie sie über den Haufen warf, sprangen sie nacheinander über das Tier hinweg und vollführten in der Luft die verschiedensten Kunstfiguren. Wieder auf dem Boden, brachten sie sich vor der Furie so schnell wie möglich in Sicherheit. Denn die düpierte Kuh preschte schnell wieder heran, um sich zu rächen. Es war spannend und lustig zugleich, und ich hätte stundenlang zuschauen können.
Nach diesem Vorprogramm folgte der eigentliche Wettbewerb, wie ich aus den dröhnenden Lautsprechern erfuhr. Jede der nun auftretenden Kampfkühe wurde mit Namen, Herkunft und Besitzer vorgestellt. Dann war die Reihe an den Athleten. Wie bei einem Open-Air-Konzert waren zuerst „schwächere“ Kämpfer an der Reihe. Schließlich sollte die Spannung über drei Stunden aufrechterhalten werden. Doch was nun folgte, enttäuschte und erzürnte mich.
Waren die wagemutigen Männer von vorhin elegant und gekonnt über die Kühe hinweggesprungen, ging es beim eigentlichen Wettbewerb darum, vor der herangaloppierenden Kuh stehenzubleiben, um dann, durch eine winzig kleine Bewegung der Hüften, die Furie möglichst knapp an sich vorbei laufen zu lassen. Je knapper der Abstand, umso höher war die Bewertung.
Es dauerte nicht lange, bis der Erste von einer Kuh gerammt wurde. Der junge Mann musste sich schwere Rückenverletzungen zugezogen haben, denn er blieb regungslos am Boden liegen und wurde auf einer Bahre abtransportiert. Das sei halt das Risiko dieses faszinierenden Sports, verkündete der Lautsprecher. Schon bald lag ein Zweiter am Boden. Er erhob sich zwar noch aus eigener Kraft, humpelte aber mit schmerzverzerrtem Gesicht davon. Nach zehn Minuten tauchte er wieder auf und betrat hinkend die Arena, unter dem tosenden Beifall der Zuschauer. Er wollte das Schicksal ein zweites Mal herausfordern, und diesmal gelang es ihm.
Als aber bald darauf ein Dritter regungslos am Boden lag, stand ich empört auf und verließ mit leisem Protest die Arena im Glauben, dass mir andere folgen würden. Aber nichts dergleichen geschah! Die Zuschauer