Vom Mann, der mit zwei Flaschen Whiskey den Untergang der Titanic überlebte. Giles Milton

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Vom Mann, der mit zwei Flaschen Whiskey den Untergang der Titanic überlebte - Giles  Milton


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ebenso cool geblieben wie Walter Harris, der Korrespondent der Times in Marokko, als er 1903 in die Gefangenschaft islamistischer Extremisten geriet? Ich bezweifle es.

      Die Gefahr, heutzutage als menschliche Freakshow präsentiert zu werden wie Ota Benga, ist ebenso gering, wie lebendig begraben zu werden, was Augustine Courtauld erleben musste. Aber uns allen könnte alles passieren – wer weiß, vielleicht finden Sie sich plötzlich in einem Abenteuer wieder, das man eines Tages als eine kostbare Anekdote der Geschichtsschreibung betrachten wird.

       Giles Milton

       Teil I

       Ganz schön kalt da draußen

      Schadensersatzansprüche für Tiere,

      die beim Untergang der Titanic im eisigen Wasser ertranken:

      Robert W. Daniel

       Eine reinrassige Französische Bulldogge mit Namen Gamin de Pycombe: $ 750

      William Carter

       Ein King Charles Spaniel und ein Airedale Terrier: $ 300

      Ella Holmes White

       Vier Hähne und Hennen: $ 207,87

      Harry Anderson

       Ein Chow-Chow: $ 50

       Ein Toter auf dem Mount Everest

      Die Leiche war gefroren und von der Sonne ausgebleicht. Sie lag in Hangrichtung ausgestreckt mit dem Gesicht nach unten im Schnee. Ihr Oberkörper war durch das Eis wie an den Berg geschweißt. Die Arme, noch immer muskulös, lagen ausgestreckt über dem Kopf.

      Der Bergsteiger George Mallory war am 8. Juni 1924 zum letzten Mal gesehen worden, bevor er und Andrew Irvine bei dem Versuch, als Erste den Gipfel des Mount Everest zu erreichen, verschwanden. Ob sie ihr Ziel erreichten? Darüber wird seit nunmehr neunzig Jahren spekuliert.

      Im Frühjahr 1999 gründete der Amerikaner Eric Simonson die Mallory and Irvine Research Expedition. Fünf erfahrene Bergsteiger wurden auf den Mount Everest geschickt, um die Leichen der Männer zu finden. Die Expedition hatte ein paar Anhaltspunkte, an der sie sich orientieren konnte. 1975 war der chinesische Bergsteiger Wang Hung-bao auf einer Höhe von etwa 8100 Metern über einen »englischen Toten« gestolpert. Wang berichtete seinem Kletterpartner von diesem Fund und wurde kurz darauf selbst von einer Lawine davongeschwemmt. Die exakte Position des »englischen Toten« konnte nie ermittelt werden.

      Eric Simonsons fünfköpfiges Team erfahrener Bergsteiger ließ sich davon nicht beirren. Conrad Anker, Dave Hahn, Jake Norton, Andy Politz und Tap Richards waren fest entschlossen, ihre Aufgabe zu erfüllen, auch wenn ihre Erfolgschancen nur sehr gering waren. Die Suche konzentrierte sich auf eine breite Schneeterrasse in der Größe von etwa zwölf Fußballfeldern. Diese um dreißig Grad geneigte Terrasse lag auf einer Höhe von fast 8000 Metern. Die Männer wussten, wenn sie das Gleichgewicht verlören, würden sie über 2000 Meter tief bis hinunter auf den Rongbuk-Gletscher stürzen.

      Am 1. Mai rief Conrad Anker, der den Hang durchkämmte, plötzlich nach seinen Kameraden. Er hatte eine Leiche gefunden, weiß wie Alabaster, die aus dem Eis hervorragte. Der Rest des Teams kam herüber und fing an, den Toten aus seiner gefrorenen Ruhestätte zu befreien. Dabei untersuchten sie seinen Körper genauer. Sein rechtes Schien- und Wadenbein waren gebrochen, der rechte Ellbogen ausgekugelt und die gesamte rechte Seite schwer verletzt. Das Sicherungsseil hatte sich fest um seinen Brustkorb geschlungen.

      Es dauerte nicht lange, den Toten zu identifizieren. Tap Richards warf einen Blick in dessen Kleidung. Auf dem Namensschild stand: G Mallory. »Vielleicht war es die Höhe und der Umstand, dass wir alle unsere Sauerstoffgeräte abgelegt hatten«, sagte Dave Hahn, »aber es dauerte eine Weile, bis uns klar wurde, dass es tatsächlich George Mallory war, den wir da vor uns hatten.«

      Nach wie vor blieb jedoch die Frage, ob Mallory und Irvine es bis zum Gipfel geschafft hatten. Starben sie auf dem Weg nach oben? Oder auf dem Weg nach unten? Die Männer hofften, Mallorys Kamera zu finden, denn die Experten bei Kodak hatten erklärt, dass man den Film trotz seines Alters möglicherweise würde entwickeln können. Doch als die Männer den Beutel öffneten, den Mallory um den Hals trug, lag dort nur eine Metalldose mit Brühwürfeln.

      Daneben fanden sich noch ein Höhenmeter aus Messing, ein Taschenmesser, ein mit einem Monogramm besticktes Taschentuch und in einer Innentasche eine unversehrte Sonnenbrille. Die Sonnenbrille könnte ein wichtiger Hinweis darauf sein, was damals im Juni 1924 geschehen war. Nur wenige Tage vor Mallorys Versuch, den Gipfel zu erreichen, hatte sein zweiter Kletterpartner Edward Norton unter einer ernsten Schneeblindheit gelitten, weil er keine Sonnenbrille getragen hatte. Mallory hätte seine Brille nicht abgezogen, wenn er bei Tageslicht geklettert wäre. Der Umstand, dass sie sich in seiner Tasche befand, lässt vermuten, dass die beiden Männer ihren Aufstieg bei Tageslicht beendet hatten und sich nun nach Sonnenuntergang auf dem Weg nach unten befanden.

      Nicht weniger interessant als die Brille war ein Briefumschlag, den man bei Mallory fand und auf dem jede Menge Zahlen notiert waren: Druckangaben der Sauerstoffflaschen, die die beiden Männer bei sich trugen. Lange war man davon ausgegangen, dass sie nicht genug Sauerstoff dabeigehabt hatten, um den Gipfel zu erreichen, doch die Zahlen zeigten, dass die Männer fünf, vielleicht sogar sechs Flaschen bei sich trugen – mehr als genug, um bis ganz nach oben zu kommen.

      Noch aufschlussreicher aber war ein anderer Gegenstand, den das Suchteam bei Mallory zu finden erwartet hatte. Er hatte ein Foto seiner geliebten Frau Ruth bei sich getragen und versprochen, es auf dem Gipfel zurückzulassen. Doch das Foto war nirgends zu finden, obwohl seine Brieftasche und alle anderen Papiere unversehrt geblieben waren. Anhand dieser Hinweise rekonstruierten die Männer, was möglicherweise an dem schicksalhaften Abend im Jahr 1924 geschehen war. Es ist eine Geschichte voller Abenteuer, und sie erzählt von einer folgenschweren Fehlentscheidung, die wohl am Ende zu Mallorys Tod führte.

      Es ist spät am Abend des 8. Juni. Die Dunkelheit ist schon lange hereingebrochen, und die beiden Männer sind noch immer hoch oben im Berg. Sie sind erschöpft und haben möglicherweise Probleme mit dem Sauerstoff. Also versuchen sie verzweifelt, wieder in sicherere Höhen hinab zu gelangen. Als sie die Sequenz aus Marmor und Schiefer, das berüchtigte »Gelbe Band«, überqueren, rutscht einer der beiden aus.

      Es kann gut Mallory gewesen sein. Falls es so war, dann hat das Seil seinen Fall abgefangen und ihn gegen einen Felsen geschleudert. Er bricht sich die Rippen und kugelt sich den Ellbogen aus. Doch das Seil hält ihn, sodass er nun in der Luft hängt. Doch dann reißt es plötzlich. Er fällt in die Dunkelheit, landet auf einem steilen Schneebrett und bricht sich dabei den Unterschenkel. Doch auch hier bleibt er nicht liegen. Die Schwerkraft reißt ihn mit rasender Geschwindigkeit die Nordseite des Berges hinunter.

      Mallory hat Todesangst und unglaubliche Schmerzen, doch er ist noch bei Bewusstsein und versucht sich irgendwie zu retten. Verzweifelt krallt er seine Finger in das Eis. Immer schneller rast er den Abhang hinab, bis er mit der Stirn gegen einen scharfkantigen Felsen prallt, der ihm ein Loch in den Schädelknochen schlägt. Er bleibt liegen und verliert das Bewusstsein. Schmerz und Unterkühlung überwältigen ihn. Nur wenige Minuten später ist George Mallory tot.

      Seinen Partner Andrew Irvine hat mit ziemlicher Sicherheit das gleiche Schicksal ereilt. Er ist gefallen, schwer verletzt und ebenfalls unterkühlt. Nur wenige Minuten nach Mallory erliegt auch er der eisigen Kälte. Aber haben die beiden es bis zum Gipfel geschafft? Waren sie die Ersten, denen es gelungen war, den Mount Everest zu besteigen? Eric Simonsons Team kann diese Frage nicht zweifelsfrei beantworten. George Mallorys Leiche zu finden war ein außergewöhnlicher Erfolg, doch dieses Rätsel wird wohl ungelöst bleiben, bis vielleicht eines Tages jemand die Kamera findet.

      Nur einer fühlte sich in der Lage zu entscheiden, ob Mallory und Irvine den Titel »Bezwinger des Mount Everest« verdient haben oder nicht. Mallorys Sohn John


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