Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin
Читать онлайн книгу.und alle trugen kurze goldene Uhrketten von altmodischer Form.«1157 Noch erstaunlicher ist die Beschreibung der Menge nach der Art, wie sie sich bewegt. »Die meisten, die vorbeikamen, sahen aus wie Leute, die mit sich zufrieden sind und mit beiden Füßen im Leben stehen. Sie schienen nur daran zu denken, sich durch die Menge den Weg zu bahnen. Sie runzelten die Brauen und warfen Blicke nach allen Seiten. Wenn sie von benachbarten Passanten einen Stoß bekamen, zeigten sie sich nicht weiter ungehalten; sie brachten ihre Kleider wieder in Ordnung und hasteten weiter. Andere, und auch diese Gruppe war groß, hatten ungeordnete Bewegungen, ein rot angelaufenes Gesicht, redeten mit sich selbst und gestikulierten, so als ob sie sich gerade in der unzähligen Menge, von der sie umgeben waren, allein vorgekommen wären. Wenn sie unterwegs innehalten mußten, dann hörten diese Leute plötzlich zu murmeln auf; aber ihre Gestikulation wurde heftiger, und sie warteten mit abwesendem, forciertem Lächeln, bis die Leute, die ihnen im Wege standen, vorbeiwaren. Wenn man sie anstieß, so grüßten sie diejenigen tief, von denen sie ihren Stoß bekommen hatten, und sie schienen dann höchst befangen.«11581159 Man sollte denken, die Rede sei von halb trunkenen, verelendeten Individuen. In Wahrheit handelt es sich um »Leute von gutem Stande, Kaufleute, Advokaten und Börsenspekulanten«11601161.
Man wird das Bild, das Poe entworfen hat, nicht als realistisch bezeichnen können. Es zeigt eine planvoll entstellende Phantasie am Werk, die den Text weit von denen abrückt, die man als Muster eines sozialistischen Realismus zu empfehlen pflegt. Barbier zum Beispiel, der einer der besten ist, auf die sich ein solcher Realismus vielleicht berufen könnte, schildert die Dinge weniger befremdlich ab. Auch wählte er einen transparenteren Gegenstand; es ist die Masse der Unterdrückten. Von ihr kann bei Poe nicht die Rede sein; er hat es mit ›den Leuten‹ schlechtweg zu tun. In dem Schauspiel, das sie ihm darboten, spürte er, wie Engels, etwas Bedrohliches. Es ist eben dies Bild der Großstadtmenge, das für Baudelaire bestimmend geworden ist. Wenn er der Gewalt erlag, mit der sie ihn an sich zog und als Flaneur zu einem der ihren machte, so hat ihn doch das Gefühl von ihrer unmenschlichen Beschaffenheit dabei nicht verlassen. Er macht sich zu ihrem Komplizen und sondert sich fast im gleichen Augenblick von ihr ab. Er läßt sich weitläufig mit ihr ein, um sie unversehens mit einem Blick der Verachtung ins Nichts zu schleudern. Diese Ambivalenz hat etwas Bezwingendes, wo er sie zurückhaltend einbekennt. Mit ihr mag der schwer ergründliche Charme seines »Crépuscule du soir« zusammenhängen.
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VII
Baudelaire hat es gefallen, den Mann der Menge, auf dessen Spur der Poesche Berichterstatter das nächtliche London die Kreuz und die Quer durchstreift, mit dem Typus des Flaneurs gleichzusetzen1162. Man wird ihm darin nicht folgen können. Der Mann der Menge ist kein Flaneur. In ihm hat der gelassene Habitus einem manischen Platz gemacht. Darum ist eher an ihm abzunehmen, was aus dem Flaneur werden mußte, wenn ihm die Umwelt, in die er gehört, genommen ward. Wurde sie ihm von London je gestellt, so gewiß nicht von dem, das bei Poe beschrieben ist. An ihm gemessen, wahrt Baudelaires Paris einige Züge aus guter alter Zeit. Noch gab es Fähren, die dort, wo später Brücken sich wölben sollten, die Seine querten. Noch konnte, in Baudelaires Todesjahr, ein Unternehmer auf den Gedanken kommen, zur Bequemlichkeit bemittelter Einwohner fünfhundert Sänften zirkulieren zu lassen. Noch waren die Passagen beliebt, in denen der Flaneur dem Anblick des Fuhrwerks enthoben war, das den Fußgänger als Konkurrenten nicht gelten läßt1163. Es gab den Passanten, welcher sich in die Menge einkeilt, doch gab es auch noch den Flaneur, der Spielraum braucht und sein Privatisieren nicht missen will. Die Vielen sollen ihren Geschäften nachgehen: flanieren kann der Privatmann im Grunde nur, wenn er als solcher schon aus dem Rahmen fällt. Wo das Privatisieren den Ton angibt, ist für den Flaneur ebensowenig Platz wie im fieberhaften Verkehr der City. London hat seinen Mann der Menge. Der Eckensteher Nante, der in Berlin eine volkstümliche Figur des Vormärz war, steht gewissermaßen Pendant zu ihm; der pariser Flaneur wäre das Mittelstück1164.
Wie der Privatier auf die Menge sieht, darüber erteilt eine kleine Prosa Aufschluß – die letzte, die E. T. A. Hoffmann geschrieben hat. Das Stück heißt »Des Vetters Eckfenster«. Es ist fünfzehn Jahre älter als Poes Erzählung und stellt wohl einen der frühesten Versuche dar, das Straßenbild einer größeren Stadt aufzufassen. Die Unterschiede zwischen den beiden Texten lohnen vermerkt zu werden. Poes Beobachter blickt durch das Fenster eines öffentlichen Lokals; der Vetter dagegen ist in seinem Hauswesen installiert. Poes Beobachter unterliegt einer Attraktion, die ihn schließlich in den Strudel der Menge zieht. Hoffmanns Vetter in seinem Eckfenster ist gelähmt; er könnte der Strömung selbst dann nicht folgen, wenn er sie an der eigenen Person verspüren würde. Er ist aber über diese Menge vielmehr erhaben, wie es sein Posten in einer Etagenwohnung ihm nahelegt. Von dort durchmustert er die Menge; es ist Wochenmarkt, und sie fühlt sich in ihrem Element. Sein Opernglas hebt ihm Genreszenen aus ihr heraus. Dem Gebrauch dieses Instruments ist die innere Haltung des Benutzers durchaus entsprechend. Er will seinen Besucher, wie er gesteht, in die »Primitien der Kunst zu schauen«1165 einweihen1166. Diese besteht in der Fähigkeit, sich an lebenden Bildern zu erfreuen, wie ihnen das Biedermeier auch sonst nachgeht. Erbauliche Sprüche stellen die Auslegung1167. Man kann den Text als einen Versuch ansehen, dessen Veranstaltung fällig zu werden begann. Es ist aber klar, daß er in Berlin unter Bedingungen unternommen wurde, die sein volles Gelingen vereitelten. Hätte Hoffmann Paris oder London je betreten, wäre er auf die Darstellung einer Masse als solcher aus gewesen, so hätte er sich nicht an einen Markt gehalten; er hätte nicht die Frauen beherrschend ins Bild gestellt; er hätte vielleicht die Motive aufgegriffen, die Poe der im Gaslicht bewegten Menge abgewinnt. Übrigens hätte es derer nicht bedurft, um das Unheimliche herauszustellen, das andere Physiognomen der großen Stadt gespürt haben. Ein nachdenkliches Wort von Heine gehört hierher. »Er litt«, so berichtet ein Korrespondent 1838 an Varnhagen, »im Frühling sehr an den Augen. Das letztemal ging ich ein Stück von den Boulevards mit ihm. Der Glanz, das Leben dieser in ihrer Art einzigen Straße regte mich zu unermüdlicher Bewunderung auf, welchem gegenüber dieses Mal Heine das Grauenvolle, das diesem Weltmittelpunkte beigemischt sei, bedeutend hervorhob.«1168
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VIII
Angst, Widerwillen und Grauen weckte die Großstadtmenge in denen, die sie als die ersten ins Auge faßten. Bei Poe hat sie etwas Barbarisches. Disziplin bändigt sie nur mit genauer Not. Später ist James Ensor nicht müde geworden, Disziplin und Wildheit in ihr zu konfrontieren. Er baut mit Vorliebe Militärverbände in seine karnevalesken Banden ein. Beide vertragen sich miteinander vorbildlich. Nämlich als Vorbild der totalitären Staaten, in denen die Polizei mit den Plünderern geht. Valéry, der für den Symptomkomplex ›Zivilisation‹ einen scharfen Blick hat, kennzeichnet einen der einschlägigen Tatbestände. »Der Bewohner der großen städtischen Zentren«, schreibt er, »verfällt wieder in den Zustand der Wildheit, will sagen der Vereinzelung. Das Gefühl, auf die anderen angewiesen zu sein, vordem ständig durch das Bedürfnis wachgehalten, stumpft sich im reibungslosen Ablauf des sozialen Mechanismus allmählich ab. Jede Vervollkommnung dieses Mechanismus setzt gewisse Verhaltungsweisen, gewisse Gefühlsregungen … außer Kraft.«1169 Der Komfort isoliert. Er rückt, auf der anderen Seite, seine Nutznießer dem Mechanismus näher. Mit der Erfindung des Streichholzes um die Jahrhundertmitte tritt eine Reihe von Neuerungen auf den Plan, die das eine gemeinsam haben, eine vielgliedrige Ablaufsreihe mit einem abrupten Handgriff auszulösen. Die Entwicklung geht in vielen Bereichen vor sich; sie wird unter anderm am Telefon anschaulich, bei dem an die Stelle der stetigen Bewegung, mit der die Kurbel der älteren Apparate bedient sein wollte, das Abheben eines Hörers getreten ist. Unter den unzähligen Gebärden des Schaltens, Einwerfens, Abdrückens usf. wurde das ›Knipsen‹ des Photographen besonders folgenreich. Ein Fingerdruck genügte, um ein Ereignis für eine unbegrenzte Zeit festzuhalten. Der Apparat erteilte dem Augenblick sozusagen einen posthumen Chock. Haptischen Erfahrungen dieser Art traten optische an die Seite, wie der Inseratenteil einer Zeitung sie mit sich bringt, aber auch der Verkehr in der großen Stadt. Durch ihn sich zu bewegen, bedingt für den einzelnen eine Folge von Chocks und von Kollisionen. An den gefährlichen Kreuzungspunkten