Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin

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Baudelaire … sind diese Reminiszenzen noch zahlreicher; man sieht auch: was sie bei ihm heraufführt, ist nicht der Zufall, und dadurch sind sie meines Erachtens entscheidend. Es gibt keinen wie ihn, der von langer Hand, wählerisch und doch lässig, im Geruch einer Frau zum Beispiel, im Duft ihres Haares und ihrer Brüste, den beziehungsvollen Korrespondenzen nachginge, die ihm dann ›den Azur des ungeheuren, gewölbten Himmels‹ oder ›einen Hafen, der voller Flammen und Masten steht‹ eintragen.«1194 Die Worte sind ein eingeständliches Motto zum Werk von Proust. Es hat eine Verwandtschaft mit Baudelaires, das die Tage des Eingedenkens zu einem geistlichen Jahr versammelt hat.

      Aber die »Fleurs du mal« wären nicht, was sie sind, waltete in ihnen nur dies Gelingen. Unverwechselbar sind sie vielmehr darin, daß sie der Unwirksamkeit des gleichen Trostes, daß sie dem Versagen der gleichen Inbrunst, daß sie dem Mißlingen des gleichen Werks Gedichte abgewonnen haben, die hinter denen in nichts zurückstehen, in denen die correspondances ihre Feste feiern. Das Buch »Spleen et idéal« ist unter den Zyklen der »Fleurs du mal« das erste. Das idéal spendet die Kraft des Eingedenkens; der spleen bietet den Schwarm der Sekunden dagegen auf. Er ist ihr Gebieter wie der Teufel der Gebieter des Ungeziefers. In der Reihe der »Spleen«-Gedichte steht »Le goût du néant«, wo es heißt:

       Le Printemps adorable a perdu son odeur! 1195

      In dieser Zeile sagt Baudelaire ein Äußerstes mit der äußersten Diskretion; das macht sie unverwechselbar zu der seinigen. Das Insichzusammengesunkensein der Erfahrung, an der er früher einmal teilgehabt hat, ist in dem Worte perdu einbekannt. Der Geruch ist das unzugängliche Refugium der mémoire involontaire. Schwerlich assoziiert er sich einer Gesichtsvorstellung; unter den Sinneseindrücken wird er sich nur dem gleichen Geruch gesellen. Wenn dem Wiedererkennen eines Dufts vor jeder anderen Erinnerung das Vorrecht zu trösten eignet, so ist es vielleicht, weil diese das Bewußtsein des Zeitverlaufs tief betäubt. Ein Duft läßt Jahre in dem Dufte, den er erinnert, untergehen. Das macht diesen Vers von Baudelaire zu einem unergründlich trostlosen. Für den, der keine Erfahrung mehr machen kann, gibt es keinen Trost. Es ist aber nichts anderes als dieses Unvermögen, was das eigentliche Wesen des Zornes ausmacht. Der Zornige ›will nichts hören‹; sein Urbild Timon wütet gegen die Menschen ohne Unterschied; er ist nicht mehr im Stande, den erprobten Freund von dem Todfeind zu unterscheiden. D’Aurevilly hat mit tiefem Blick diese Verfassung in Baudelaire erkannt; »einen Timon mit dem Genie des Archilochus«1196 nennt er ihn. Der Zorn mißt mit seinen Ausbrüchen den Sekundentakt, dem der Schwermütige verfallen ist.

      Et le Temps m’engloutit minute par minute,

       Comme la neige immense un corps pris de roideur. 1197

      Diese Verse schließen unmittelbar an die oben zitierten an. Im spleen ist die Zeit verdinglicht; die Minuten decken den Menschen wie Flocken zu. Diese Zeit ist geschichtslos, wie die der mémoire involontaire. Aber im spleen ist die Zeitwahrnehmung übernatürlich geschärft; jede Sekunde findet das Bewußtsein auf dem Plan, um ihren Chock abzufangen1198.

      Die Zeitrechnung, die ihr Gleichmaß der Dauer überordnet, kann doch nicht darauf verzichten, ungleichartige, ausgezeichnete Fragmente in ihr bestehen zu lassen. Die Anerkennung einer Qualität mit der Messung der Quantität vereint zu haben, war das Werk der Kalender, die mit den Feiertagen die Stellen des Eingedenkens gleichsam aussparen. Der Mann, dem die Erfahrung abhanden kommt, fühlt sich aus dem Kalender herausgesetzt. Der Großstädter macht am Sonntag mit diesem Gefühl Bekanntschaft, Baudelaire hat es avant la lettre in einem der »Spleen«-Gedichte.

      Des cloches tout à coup sautent avec furie

      Et lancent vers le ciel un affreux hurlement,

      Ainsi que des esprits errants et sans patrie

       Qui se mettent à geindre opiniâtrement. 1199

      Die Glocken, die den Feiertagen einst zugehörten, sind wie die Menschen aus dem Kalender herausgesetzt. Sie gleichen den armen Seelen, die sich viel umtun, aber keine Geschichte haben. Wenn Baudelaire im spleen und in der vie antérieure die auseinandergesprengten Bestandstücke echter historischer Erfahrung in Händen hält, so hat sich Bergson in seiner Vorstellung der durée der Geschichte weit mehr entfremdet. »Der Metaphysiker Bergson unterschlägt den Tod.«1200 Daß in Bergsons durée der Tod ausfällt, dichtet sie gegen die geschichtliche (wie auch gegen eine vorgeschichtliche) Ordnung ab. Bergsons Begriff der action fällt entsprechend aus. Der ›gesunde Menschenverstands durch welchen der »praktische Mann‹ sich hervortut, hat Pate bei ihm gestanden1201. Die durée, aus der der Tod getilgt ist, hat die schlechte Unendlichkeit eines Ornaments. Sie schließt es aus, die Tradition in sie einzubringen1202. Sie ist der Inbegriff eines Erlebnisses, das im erborgten Kleide der Erfahrung einherstolziert. Der spleen dagegen stellt das Erlebnis in seiner Blöße aus. Mit Schrecken sieht der Schwermütige die Erde in einen bloßen Naturstand zurückgefallen. Kein Hauch von Vorgeschichte umwittert sie. Keine Aura. So taucht sie in den Versen des »Goût du néant« auf, die sich den vorgenannten anschließen:

      Je contemple d’en haut le globe en sa rondeur,

       Et je n’y cherche plus l’abri d’une cahute. 1203

      —————

      Wenn man die Vorstellungen, die, in der mémoire involontaire beheimatet, sich um einen Gegenstand der Anschauung zu gruppieren streben, dessen Aura nennt, so entspricht die Aura am Gegenstand einer Anschauung eben der Erfahrung, die sich an einem Gegenstand des Gebrauchs als Übung absetzt. Die auf der Kamera und den späteren entsprechenden Apparaturen aufgebauten Verfahren erweitern den Umfang der mémoire volontaire; sie machen es möglich, ein Geschehen nach Bild und Laut jederzeit durch die Apparatur festzuhalten. Sie werden damit zu wesentlichen Errungenschaften einer Gesellschaft, in der die Übung schrumpft. – Die Daguerreotypie hatte für Baudelaire etwas Aufwühlendes und Erschreckendes; »überraschend und grausam«1204 nennt er ihren Reiz. Er hat demnach den erwähnten Zusammenhang wenn auch gewiß nicht durchschaut so doch empfunden. Wie es stets sein Bestreben war, dem Modernen seine Stelle zu reservieren und, zumal in der Kunst, sie ihm anzuweisen, hat er es auch mit der Photographie gehalten. So oft er sie als bedrohlich empfand, sucht er, ihre »schlecht verstandenen Fortschritte«1205 dafür haftbar zu machen. Dabei gestand er sich allerdings, daß sie von »der Dummheit der großen Masse« gefördert würden. »Diese Masse verlangte nach einem Ideal, das ihrer würdig wäre und ihrer Natur entsprach … Ihre Gebete hat ein rächender Gott erhört, und Daguerre wurde sein Prophet.«1206 Unbeschadet dessen bemüht sich Baudelaire um eine konziliantere Betrachtungsweise. Die Photographie mag sich unbehelligt die vergänglichen Dinge zu eigen machen, die ein Anrecht »auf einen Platz in den Archiven unseres Gedächtnisses« haben, wenn sie dabei nur haltmacht vor dem »Bezirk des Ungreifbaren, Imaginativen«: vor dem der Kunst, in dem nur das eine Stätte hat, »dem der Mensch seine Seele mitgibt«1207. Der Schiedsspruch ist schwerlich ein salomonischer. Die ständige Bereitschaft der willentlichen, diskursiven Erinnerung, die von der Reproduktionstechnik begünstigt wird, beschneidet den Spielraum der Phantasie. Diese läßt sich vielleicht als ein Vermögen fassen, Wünsche einer besonderen Art zu tun; solche, denen als Erfüllung ›etwas Schönes‹ zugedacht werden kann. Woran diese Erfüllung gebunden wäre, hat wiederum Valéry näher bestimmt: »Wir erkennen das Kunstwerk daran, daß keine Idee, die es uns erweckt, keine Verhaltungsweise, die es uns nahelegt, es ausschöpfen oder erledigen könnte. Man mag an einer Blume, die dem Geruch zusagt, riechen, solange man will; man kann diesen Geruch, der in uns die Begierde wachruft, nicht abtun, und keine Erinnerung, kein Gedanke und keine Verhaltungsweise löscht seine Wirkung aus oder spricht uns von dem Vermögen los, das er über uns hat. Dasselbe verfolgt, wer sich vorsetzt, ein Kunstwerk zu machen.«1208 Ein Gemälde würde, dieser Betrachtungsweise nach, an einem Anblick dasjenige wiedergeben, woran sich das Auge nicht sattsehen kann. Womit es den Wunsch erfüllt, der sich in seinen Ursprung projizieren läßt, wäre etwas, was diesen Wunsch unablässig nährt. Was die Photographie vom Gemälde trennt


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