Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin

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Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke - Walter  Benjamin


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Beschreibung ist merklich von denen verschieden, die man bei den französischen Kleinmeistern finden kann, einem Gozlan, Delvau oder Lurine. Es fehlt ihr die Gewandtheit und Nonchalance, mit der der Flaneur sich durch die Menge bewegt und die der Feuilletonist ihm beflissen ablernt. Für Engels hat die Menge etwas Bestürzendes. Sie löst eine moralische Reaktion bei ihm aus. Eine ästhetische spielt daneben mit; ihn berührt das Tempo, in dem die Passanten aneinander vorüberschießen, nicht angenehm. Es macht den Reiz seiner Schilderung aus, wie sich der unbestechliche kritische Habitus mit dem altväterischen Tenor in ihr verschränkt. Der Verfasser kommt aus einem noch provinziellen Deutschland; vielleicht ist die Versuchung, in einem Menschenstrom sich zu verlieren, an ihn nie herangetreten. Als Hegel nicht lange vor seinem Tod zum ersten Mal nach Paris kam, schrieb er an seine Frau: »Gehe ich durch die Straßen, sehen die Menschen grade aus wie in Berlin, – alles ebenso gekleidet, ungefähr solche Gesichter, – derselbe Anblik, aber in einer volkreichen Masse.«1147 In dieser Masse sich zu bewegen, war dem Pariser etwas Natürliches. Wie groß auch immer der Abstand sein mochte, den er für seinen Teil von ihr zu nehmen beanspruchte, er blieb von ihr tingiert, er konnte sie nicht wie ein Engels von außen ansehen. Was Baudelaire angeht, so ist die Masse so wenig etwas ihm Äußerliches, daß sich in seinem Werk verfolgen läßt, wie er, von ihr bestrickt und von ihr angezogen, sich ihrer wehrt.

      Die Masse ist Baudelaire derart innerlich, daß man ihre Schilderung bei ihm vergebens sucht. So trifft man seine wichtigsten Gegenstände kaum jemals in der Gestalt von Beschreibungen. Es ist ihm, wie Desjardins sinnreich sagt, »mehr darum zu tun, das Bild dem Gedächtnis einzusenken als es zu schmücken und auszumalen«1148. Man wird sich sowohl in den »Fleurs du mal« wie im »Spleen de Paris« umsonst nach einem Gegenstück zu den Gemälden der Stadt umsehen, in denen Victor Hugo Meister war. Baudelaire schildert weder die Einwohnerschaft noch die Stadt. Dieser Verzicht hat ihn in den Stand gesetzt, die eine in der Gestalt der anderen heraufzurufen. Seine Menge ist immer die der Großstadt; sein Paris immer ein übervölkertes. Das ist es, was ihn Barbier sehr überlegen macht, dem, weil sein Verfahren die Schilderung ist, die Massen und die Stadt auseinanderfallen1149. In den »Tableaux parisiens« ist fast überall die heimliche Gegenwart einer Masse nachweisbar. Wenn Baudelaire die Morgendämmerung zum Thema macht, so ist in den menschenleeren Straßen etwas von dem »Schweigen eines Gewimmels«, das Hugo aus dem nächtlichen Paris herausspürt. Nicht so bald läßt Baudelaire den Blick auf den Tafeln der Anatomieatlanten verweilen, die auf den staubigen Seinequais zum Verkauf ausliegen, so hat auf diesen Blättern die Masse der Abgeschiedenen unvermerkt die Stelle eingenommen, an der vereinzelte Gerippe zu sehen waren. Eine kompakte Masse bewegt sich in den Figuren der »Danse macabre« vorwärts. Mit dem Schritt, der das Tempo nicht halten kann, mit Gedanken, die von der Gegenwart nichts mehr wissen, aus der großen Masse herauszufallen, macht das Heldentum der verhutzelten Frauen aus, denen der Zyklus »Les petites vieilles« auf ihren Wegen folgt. Die Masse war der bewegte Schleier; durch ihn hindurch sah Baudelaire Paris1150. Ihre Gegenwart bestimmt eines der berühmtesten Stücke der »Fleurs du mal«.

      Keine Wendung, kein Wort macht in dem Sonett »A une passante« die Menge namhaft. Und doch beruht der Vorgang allein auf ihr, wie die Fahrt des Segelschiffs auf dem Wind beruht.

      La rue assourdissante autour de moi hurlait.

      Longue, mince, en grand deuil, douleur majestueuse,

      Une femme passa, d’une main fastueuse

      Soulevant, balançant le feston et l’ourlet;

      Agile et noble, avec sa jambe de statue.

      Moi, je buvais, crispé comme un extravagant,

      Dans son œil, ciel livide où germe l’ouragan,

      La douceur qui fascine et le plaisir qui tue.

      Un éclair … puis la nuit! – Fugitive beauté

      Dont le regard m’a fait soudainement renaître,

      Ne te verrai-je plus que dans l’éternité?

      Ailleurs, bien loin d’ici! trop tard! jamais peut-être!

      Car j’ignore où tu fuis, tu ne sais où je vais,

       O toi que j’eusse aimée, ô toi qui le savais! 1151

      Im Witwenschleier, schleierhaft durch ihr stummes Dahingetragenwerden im Gewühl, kreuzt eine Unbekannte den Blick des Dichters. Was das Sonett zu verstehen gibt, ist, in einem Satz festgehalten: die Erscheinung, die den Großstädter fasziniert – weit entfernt, an der Menge nur ihren Widerpart, nur ein ihr feindliches Element zu haben –, wird ihm durch die Menge erst zugetragen. Die Entzückung des Großstädters ist eine Liebe nicht sowohl auf den ersten als auf den letzten Blick. Es ist ein Abschied für ewig, der im Gedicht mit dem Augenblick der Berückung zusammenfällt. So stellt das Sonett die Figur des Chocks, ja die Figur einer Katastrophe. Sie hat aber mit dem so Ergriffenen das Wesen seines Gefühls mitbetroffen. Was den Körper im Krampf zusammenzieht – crispé comme un extravagant, heißt es – das ist nicht die Beseligung dessen, von dem der Eros in allen Kammern seines Wesens Besitz ergreift; es hat mehr von der sexuellen Betroffenheit, wie sie einen Vereinsamten überkommen kann. Daß diese Verse »nur in einer Großstadt entstehen konnten«1152, wie Thibaudet gemeint hat, will nicht viel sagen. Sie lassen die Stigmata zum Vorschein kommen, die das Dasein in einer Großstadt der Liebe beibringt. Nicht anders hat Proust das Sonett gelesen und darum das späte Nachbild der Frau in Trauer, das ihm eines Tages in Albertine erschienen ist, mit der beziehungsvollen Beschriftung la Parisienne versehen. »Als Albertine wieder in mein Zimmer trat, hatte sie ein schwarzes Satinkleid an. Es machte sie blaß, und sie ähnelte so dem Typ der feurigen und doch bleichen Pariserin, der Frau, die, frischer Luft entwöhnt, durch ihre Lebensweise inmitten von Massen und vielleicht auch durch den Einfluß des Lasters angegriffen, an einem bestimmten Blick zu erkennen ist, welcher bei Wangen, denen kein Rot aufgelegt wurde, unstet wirkt.«1153 So blickt, noch bei Proust, der Gegenstand einer Liebe, wie nur der Großstädter sie erfährt, wie sie von Baudelaire dem Gedicht erobert wurde und von der man nicht selten wird sagen dürfen, die Erfüllung sei ihr minder versagt als erspart geblieben1154.

      —————

      Unter den älteren Fassungen des Motivs der Menge darf eine von Baudelaire übertragene Erzählung Poes als die klassische angesehen werden. Sie weist einige Merkwürdigkeiten auf, und man hat ihnen nur zu folgen, um auf gesellschaftliche Instanzen zu stoßen, die so mächtig und so verborgen sind, daß sie zu denen dürfen gerechnet werden, von denen die vielfach vermittelte, sowohl tiefgreifende wie subtile Wirkung auf die künstlerische Produktion allein ausgehen kann. Das Stück ist betitelt »Der Mann der Menge«. London ist sein Schauplatz; und zum Erzähler macht es einen Mann, der nach langer Krankheit sich erstmals ins Getriebe der Stadt hinausbegibt. In den späten Nachmittagsstunden eines Herbsttages hat er sich hinter dem Fenster eines großen Lokals in London installiert. Er mustert die Gäste um sich herum, auch die Inserate in einer Zeitung; vor allem aber geht sein Blick über die Menge hin, die sich an seinem Fenster vorüberschiebt. »Die Straße war eine der belebtesten in der Stadt; den ganzen Tag war sie von Menschen gefüllt gewesen. Nun aber, bei Einbruch der Dunkelheit, wuchs die Menge mit jeder Minute an; und als die Gasflammen entzündet waren, drängten zwei dichte, massive Ströme von Passanten an dem Café vorbei. Ich hatte mich noch nie in gleicher Verfassung gefühlt wie in dieser Abendstunde; und ich kostete die neue Erregung aus, die beim Anblick des Ozeans wogender Köpfe mich überkommen hatte. Allmählich ließ ich aus dem Auge, was in dem Raum, in dem ich mich befand, vor sich ging. Ich verlor mich an die Betrachtung der Straßenszene.«1155 Die Fabel, zu der dieses Vorspiel gehört, muß, so bedeutsam sie ist, auf sich beruhen; der Rahmen, in dem sie spielt, will betrachtet sein.

      Düster und zerfahren wie das Gaslicht, in dem sie sich bewegt, erscheint bei Poe die londoner Menge selbst. Das gilt nicht nur von dem Gesindel, das mit der Nacht »aus den Höhlen«1156 kriecht. Die Klasse der höheren Angestellten wird von Poe folgendermaßen beschrieben: »Ihr Haar war


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