Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin

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Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke - Walter  Benjamin


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durch den Umstand, daß Baudelaire keinen Roman hinterlassen hat, an Gewicht gewonnen.

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      Der Terminus von Melanchthon Melencolia illa heroica bezeichnet Baudelaires Ingenium am vollkommensten. Die Melancholie enthält aber im neunzehnten Jahrhundert einen andern Charakter als im siebzehnten. Die Schlüsselfigur der frühen Allegorie ist die Leiche. Die Schlüsselfigur der späten Allegorie ist das »Andenken«. Das »Andenken« ist das Schema der Verwandlung der Ware ins Objekt des Sammlers. Die Correspondances sind der Sache nach die unendlich vielfachen Anklänge jeden Andenkens an die andern. »J’ai plus de souvenirs que si j’avais mille ans.«

      Der heroische Tenor der Baudelaireschen Inspiration stellt sich darin dar, daß bei ihm die Erinnerung zu gunsten des Andenkens ganz zurücktritt. Es gibt bei ihm auffallend wenig »Kindheitserinnerungen«.

      Baudelaires exzentrische Eigenart war eine Maske, unter der er, man darf sagen aus Scham, die überindividuelle Notwendigkeit seiner Lebensform, bis zu einem gewissen Grade auch seiner Lebensschicksale zu verbergen suchte.

      Seit dem 17. Jahre führt Baudelaire das Leben eines Literaten. Man kann nicht sagen, daß er sich jemals als ein »Geistiger« bezeichnet, für »das Geistige« sich eingesetzt hätte. Das Warenzeichen für die künstlerische Produktion war noch nicht erfunden.

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      Über den abgestumpften Schluß materialistischer Untersuchungen (im Gegensatz zum Abschluß des Barockbuches)⁠〈.〉

      Die allegorische Anschauung, die im 17ten Jahrhundert stilbildend gewesen war, war es im 19ten nicht mehr. Baudelaire ist als Allegoriker isoliert gewesen; seine Isolierung war in gewisser Hinsicht die eines Nachzüglers. (Seine Theorien betonen diese Rückständigkeit manchmal in provokatorischer Weise.) Ist die stilbildende Kraft der Allegorie im 19ten Jahrhundert gering gewesen, so war es nicht minder ihre Verführung zur Routine, die in der Dichtung des 17ten so vielfache Spuren hinterlassen hat. Diese Routine hat bis zu einem gewissen Grade die destruktive Tendenz der Allegorie, ihre Betonung des Bruchstückhaften am Kunstwerk beeinträchtigt⁠〈.〉

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      1940

      Bekanntlich soll es einen Automaten gegeben haben, der so konstruiert gewesen sei, daß er jeden Zug eines Schachspielers mit einem Gegenzuge erwidert habe, der ihm den Gewinn der Partie sicherte. Eine Puppe in türkischer Tracht, eine Wasserpfeife im Munde, saß vor dem Brett, das auf einem geräumigen Tisch aufruhte. Durch ein System von Spiegeln wurde die Illusion erweckt, dieser Tisch sei von allen Seiten durchsichtig. In Wahrheit saß ein buckliger Zwerg darin, der ein Meister im Schachspiel war und die Hand der Puppe an Schnüren lenkte. Zu dieser Apparatur kann man sich ein Gegenstück in der Philosophie vorstellen. Gewinnen soll immer die Puppe, die man ›historischen Materialismus‹ nennt. Sie kann es ohne weiteres mit jedem aufnehmen, wenn sie die Theologie in ihren Dienst nimmt, die heute bekanntlich klein und häßlich ist und sich ohnehin nicht darf blicken lassen.

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      »Zu den bemerkenswerthesten Eigenthümlichkeiten des menschlichen Gemüths«, sagt Lotze, »gehört … neben so vieler Selbstsucht im Einzelnen die allgemeine Neidlosigkeit jeder Gegenwart gegen ihre Zukunft.« Diese Reflexion führt darauf, daß das Bild von Glück, das wir hegen, durch und durch von der Zeit tingiert ist, in welche der Verlauf unseres eigenen Daseins uns nun einmal verwiesen hat. Glück, das Neid in uns erwecken könnte, gibt es nur in der Luft, die wir geatmet haben, mit Menschen, zu denen wir hätten reden, mit Frauen, die sich uns hätten geben können. Es schwingt, mit andern Worten, in der Vorstellung des Glücks unveräußerlich die der Erlösung mit. Mit der Vorstellung von Vergangenheit, welche die Geschichte zu ihrer Sache macht, verhält es sich ebenso. Die Vergangenheit führt einen heimlichen Index mit, durch den sie auf die Erlösung verwiesen wird. Streift denn nicht uns selber ein Hauch der Luft, die um die Früheren gewesen ist? ist nicht in Stimmen, denen wir unser Ohr schenken, ein Echo von nun verstummten? haben die Frauen, die wir umwerben, nicht Schwestern, die sie nicht mehr gekannt haben? Ist dem so, dann besteht eine geheime Verabredung zwischen den gewesenen Geschlechtern und unserem. Dann sind wir auf der Erde erwartet worden. Dann ist uns wie jedem Geschlecht, das vor uns war, eine schwache messianische Kraft mitgegeben, an welche die Vergangenheit Anspruch hat. Billig ist dieser Anspruch nicht abzufertigen. Der historische Materialist weiß darum.

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      Der Chronist, welcher die Ereignisse hererzählt, ohne große und kleine zu unterscheiden, trägt damit der Wahrheit Rechnung, daß nichts was sich jemals ereignet hat, für die Geschichte verloren zu geben ist. Freilich fällt erst der erlösten Menschheit ihre Vergangenheit vollauf zu. Das will sagen: erst der erlösten Menschheit ist ihre Vergangenheit in jedem ihrer Momente zitierbar geworden. Jeder ihrer gelebten Augenblicke wird zu einer citation à l’ordre du jour – welcher Tag eben der jüngste ist.

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      Trachtet am ersten nach Nahrung und Kleidung, so wird euch das Reich Gottes von selbst zufallen.

      Hegel, 1807

      Der Klassenkampf, der einem Historiker, der an Marx geschult ist, immer vor Augen steht, ist ein Kampf um die rohen und materiellen Dinge, ohne die es keine feinen und spirituellen gibt. Trotzdem sind diese letztern im Klassenkampf anders zugegen denn als die Vorstellung einer Beute, die an den Sieger fällt. Sie sind als Zuversicht, als Mut, als Humor, als List, als Unentwegtheit in diesem Kampf lebendig und sie wirken in die Ferne der Zeit zurück. Sie werden immer von neuem jeden Sieg, der den Herrschenden jemals zugefallen ist, in Frage stellen. Wie Blumen ihr Haupt nach der Sonne wenden, so strebt kraft eines Heliotropismus geheimer Art, das Gewesene der Sonne sich zuzuwenden, die am Himmel der Geschichte im Aufgehen ist. Auf diese unscheinbarste von allen Veränderungen muß sich der historische Materialist verstehen.

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      Das wahre Bild der Vergangenheit huscht vorbei. Nur als Bild, das auf Nimmerwiedersehen im Augenblick seiner Erkennbarkeit eben aufblitzt, ist die Vergangenheit festzuhalten. »Die Wahrheit wird uns nicht davonlaufen« – dieses Wort, das von Gottfried Keller stammt, bezeichnet im Geschichtsbild des Historismus genau die Stelle, an der es vom historischen Materialismus durchschlagen wird. Denn es ist ein unwiederbringliches Bild der Vergangenheit, das mit jeder Gegenwart zu verschwinden droht, die sich nicht als in ihm gemeint erkannte.

      Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen ›wie es denn eigentlich gewesen ist‹. Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt. Dem historischen Materialismus geht es darum, ein Bild der Vergangenheit festzuhalten, wie es sich im Augenblick der Gefahr dem historischen Subjekt unversehens einstellt. Die Gefahr droht sowohl dem Bestand der Tradition wie ihren Empfängern. Für beide ist sie ein und dieselbe: sich zum Werkzeug der herrschenden Klasse herzugeben. In jeder Epoche muß versucht werden, die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen. Der Messias kommt ja nicht nur als der Erlöser; er kommt als der Überwinder des Antichrist. Nur dem Geschichtsschreiber wohnt die Gabe bei, im Vergangenen den Funken der Hoffnung anzufachen,


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