Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin

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und die Form, welche im XII. Jahrhundert die Ärzteschule von Salerno in ihrem Haupte Constantinus Africanus der Temperamentenlehre gegeben hat, ist bis zur Renaissance in Kraft geblieben. Ihr zufolge gilt der Melancholische als »neidisch, traurig, habgierig, geizig, treulos, furchtsam und lehmfarben«,573 der humor melancholicus als die »unedelst complex«.574 Die Ursache dieser Erscheinungen fand die Humoralpathologie im Überfluß des trockenen und kalten Elements im Menschen. Als dieses Element galt die schwarze Galle – bilis innaturalis oder atra im Gegensatz zur bilis naturalis oder candida –, wie das feuchte und warme – sanguinische – Temperament im Blute, das feuchte und kalte – phlegmatische – im Wasser und das trockene und warme – cholerische – in der gelben Galle gegründet gedacht wurde. Des weitern war nach dieser Theorie die Milz von ausschlaggebender Bedeutung für die Bildung der unheilvollen schwarzen Galle. Das in sie hinabfließende und in ihr überhandnehmende ›dicke und dürre‹ Blut mindert das Lachen des Menschen und ruft die Hypochondrie hervor. Die physiologische Herleitung der Melancholie – »Oder ists nur phantasey, die den müden geist betrübet, | Welcher, weil er in dem cörper, seinen eignen kummer liebet?«575 heißt es bei Gryphius – mußte für das Barock, dem das Elend des Menschentums in seinem kreatürlichen Stande so genau vor Augen stand, höchst eindrucksvoll sein. Wenn aus den Tiefen des kreatürlichen Bereiches, an das die Spekulation des Zeitalters mit den Banden der Kirche selber sich gefesselt sah, die Melancholie aufsteigt, so war ihre Allmacht erklärt. In der Tat ist sie unter den kontemplativen Intentionen die eigentlich kreatürliche und von jeher hat man bemerkt, daß ihre Kraft im Blick des Hundes nicht geringer sein muß als in der Haltung des grübelnden Genius. »Gnädiger Herr, die Traurigkeit ist zwar nicht für Tiere, sondern für Menschen gemacht; allein wenn die Menschen ihr über alles Maß nachhängen, so werden sie zu Tieren«,576 mit diesen Worten wendet sich Sancho an Don Quichote. Theologisch gewendet, findet sich – und schwerlich als Ergebnis eigner Deduktionen – der gleiche Gedanke bei Paracelsus. »Die Fröligkeit vnn die Traurigkeit/ ist auch geboren von Adam vnn Eua. Die Fröligkeit ist in Eua gelegen/ vnn die Traurigkeit in Adam … So ein frölichs Mensch/ als Eua gewesen ist/ wirdt nimmermehr geboren: Deßgleichen als traurig als Adam gewesen ist/ wirdt weiter kein Mensch geboren. Dann die zwo Materien Adae vnd Euae haben sich vermischt/ daß die Traurigkeit temperiert ist worden vonn der Fröligkeit/ vnnd die Fröligkeit deßgleichen von der Traurigkeit … Der Zorn/ Tyranney/ vnnd die Wuetend Eigenschafft/ deßgleichen die Mildte/ Tugentreiche / vnnd Bescheidenheit/ ist auch von ihn beyden hie: daß Erste von Eua, das Ander von Adamo, und durch Vermischung eingetheilt inn alle Proles.«577 Adam, als Erstgeborner reines Geschöpf, hat die kreatürliche Traurigkeit, Eva, geschaffen ihn zu erheitern, hat die Fröhlichkeit. Die konventionelle Verbindung von Melancholie und Raserei ist nicht beobachtet; Eva mußte als Anstifterin des Sündenfalles bezeichnet werden. Ursprünglich ist freilich diese trübe Auffassung der Melancholie nicht. Vielmehr ist sie in der Antike dialektisch gesehen worden. Unter dem Begriffe der Melancholie bindet eine kanonische Aristotelesstelle die Genialität an den Wahnsinn. Mehr als zwei Jahrtausende lang hat die Symptomenlehre der Melancholie, wie sie im xxx. Kapitel der »Problemata« entwickelt ist, gewirkt. Hercules Aegyptiacus ist der Prototyp des vor seinem Zusammenbruch im Wahnsinn zu den höchsten Taten beflügelten Ingeniums. »Die Gegensätze der intensivsten, geistigen Tätigkeit und ihres tiefsten Verfalles«578 werden in solcher Nachbarschaft mit immer gleich starkem Grauen den Betrachter an sich reißen. Es kommt hinzu, daß melancholische Genialität besonders im Divinatorischen sich zu bekunden pflegt. Antik – der Aristotelischen Abhandlung »De divinatione somnium« entlehnt – ist die Anschauung, daß Melancholie das seherische Vermögen begünstige. Und dieser unverdrängte Rest antiker Theoreme kommt in der mittelalterlichen Überlieferung von den just Melancholischen beschiedenen Seherträumen an den Tag. Auch im XVII. Jahrhundert begegnen solche, freilich immer wieder ins Düstere gewandten Charakteristiken: »Allgemeine Traurigkeit ist eine Wahrsagerin alles zukünftigen Unheils.« Sowie mit größtem Nachdruck Tschernings schönes Gedicht »Melancholey Redet selber«: »Ich Mutter schweren bluts/ ich faule Last der Erden| Wil sagen/ was ich bin/ und was durch mich kan werden. | Ich bin die schwartze Gall/ ‘nechst im Latein gehört/ | Im Deutschen aber nun/ und keines doch gelehrt. | Ich kan durch wahnwitz fast so gute Verse schreiben/ | Als einer der sich last den weisen Föbus treiben/ | Den Vater aller Kunst. Ich fürchte nur allein | Es möchte bey der Welt der Argwohn von mir seyn/ | Als ob vom Höllengeist ich etwas wolt’ ergründen/| Sonst könt’ ich vor der Zeit/ was noch nicht ist/ verkünden/| Indessen bleib ich doch stets eine Poetinn/| Besinge meinen fall/ und was ich selber bin. | Und diesen Ruhm hat mir mein edles Blut geleget | Und Himmelischer Geist/ wann der sich in mir reget/| Entzünd ich als ein Gott die Hertzen schleunig an/| Da gehn sie ausser sich/ und suchen eine Bahn | Die mehr als Weltlich ist. Hat jemand was gesehen/| Von der Sibyllen Hand so ists durch mich geschehen.«579 Die Langlebigkeit dieses gewiß nicht verächtlichen Schemas tieferer anthropologischer Analysen ist erstaunlich. Noch Kant malte das Bild des Melancholikers mit den Farben, in denen es bei älteren Theoretikern erscheint. »Rachbegierde … Eingebungen, Erscheinungen, Anfechtungen … bedeutende Träume, Ahndungen und Wunderzeichen«580 sprechen die »Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen« ihm zu.

      Wie in der Schule von Salerno antike Humoralpathologie vermittelt durch die Wissenschaft Arabiens wiederauflebt, so war Arabien auch der Konservator der anderen hellenistischen Wissenschaft, aus der die Lehre vom Melancholiker sich nährte: der Astrologie. Als Hauptquelle mittelalterlicher Sternweisheit hat man die Astronomie des Abû Ma sar, die ihrerseits von spätantiken abhängt, aufgewiesen. Die Theorie der Melancholie steht in genauem Zusammenhang mit der Lehre von den Gestirneinflüssen. Und unter ihnen konnte nur der unheilvollste, jener des Saturn, der melancholischen Gemütsart vorgesetzt sein. So offenkundig in der Theorie des melancholischen Temperamentes das astrologische und medizinische System geschieden bleiben – so wollte Paracelsus aus dem letzteren die Melancholie durchaus und ganz ausschließlich in das erste weisen581 –, so offenkundig die harmonisierenden Spekulationen, die man aus beiden ausgesponnen hat, zufällig in bezug auf den empirischen Charakter scheinen müssen, desto erstaunlicher, ja schwerer erklärlich ist die Fülle anthropologischer Einsichten, in welche sie mündet. Entlegene Einzelheiten wie die Neigung des Melancholischen zu weiten Reisen tauchen auf: von daher Meer am Horizont der Dürerschen »Melencolia«; aber auch der fanatische Exotismus Lohensteinscher Dramen, die Lust des Zeitalters an Reisebeschreibungen. Hier ist die astronomische Deduktion dunkel. Anders wenn die Erdferne und die damit gegebene lange Umlaufszeit des Planeten nicht mehr im bösen Sinne, dem die Ärzte von Salerno folgen, vielmehr mit einem Hinweis auf die göttliche Vernunft, die dem bedrohlichen Gestirn den fernsten Platz verordnet, in einem segensreichen aufgefaßt und andererseits der Tiefsinn des Betrübten aus Saturn begriffen wird, der, »als höchster und dem täglichen Leben fernstehender Planet, als der Urheber jeder tiefen Kontemplation die Seele von Äußerlichkeiten ins Innere ruft, sie immer höher steigen läßt und schließlich mit dem höchsten Wissen und prophetischen Gaben beschenkt«.582 In Umdeutungen dieser Art, wie sie der Wandlung jener Lehren ihren faszinierenden Charakter geben, bekundet sich ein dialektischer Zug der Saturnvorstellung, der aufs erstaunlichste der Dialektik des griechischen Melancholiebegriffs sich zuordnet. Diese lebendigste Funktion des Saturnbildes aufgedeckt zu haben, darin beruht wohl die Vollendung, welche Panofsky und Saxl in ihrer schönen Studie über »Dürers Melencolia I« den Entdeckungen ihres außerordentlichen Vorbildes, den Studien Giehlows über »Dürers Melencolia I und den maximilianischen Humanistenkreis« gegeben haben. So heißt es denn in der jüngeren Schrift: »Diese ›Extremitas‹ nun, die die Melancholie den anderen drei ›Temperamenten‹ gegenüber für alle folgenden Jahrhunderte so bedeutungsvoll und problematisch, so beneidenswert und unheimlich gemacht hat … – sie begründet auch die tiefste und entscheidendste Entsprechung zwischen der Melancholie und dem Saturn … Wie die Melancholie, so verleiht auch der Saturn, dieser Dämon der Gegensätze, der Seele auf der einen Seite die Trägheit und den Stumpfsinn, auf der andern die Kraft der Intelligenz und Kontemplation, wie sie bedroht auch er die ihm Unterworfenen, mögen sie an und für sich noch so erlauchte Geister sein, stets mit den Gefahren des Trübsinns oder der irren Ekstase – er, der um … Ficino zu zitieren, ›selten gewöhnliche Charaktere und Schicksale bezeichnet, sondern Menschen, die von den andern verschieden sind, göttliche oder tierische, glückselige oder vom tiefsten Elend


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