Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin
Читать онлайн книгу.kann … Die Kronosvorstellung ist nicht nur dualistisch in bezug auf die Wirkung des Gottes nach außen, sondern auch in bezug auf sein eigenes, gleichsam persönliches Schicksal, und sie ist es außerdem in solchem Umfang und in solcher Schärfe, daß man den Kronos geradezu als einen Gott der Extreme bezeichnen könnte. Auf der einen Seite ist er der Herrscher des goldenen Zeitalters … – auf der andern ist er der traurige, entthronte und geschändete Gott …; auf der einen Seite erzeugt (und verschlingt) er unzählige Kinder – auf der andern Seite ist er zu ewiger Unfruchtbarkeit verdammt; auf der einen Seite ist er … ein durch plumpe List zu übertölpelnder Unhold – auf der andern ist er der alte weise Gott, der … als höchste Intelligenz, als ein προμήϑευς und προμάντιος verehrt wird … In dieser immanenten Polarität des Kronosbegriffs … findet der besondere Charakter der astrologischen Saturn-Vorstellung seine letzte Erklärung – jener Charakter, der letzten Endes durch einen ganz besonders ausgeprägten und grundsätzlichen Dualismus bestimmt wird.«584 »Noch der Dantekommentator Jacopo della Lana hat z. B. diese immanente Antithetik wieder ganz klar herausgearbeitet und in scharfsinniger Weise begründet, indem er darlegt, daß der Saturn vermöge seiner Qualität, als erdenschweres, kaltes, trockenes Gestirn, die völlig materiellen, nur zu harter Landarbeit sich eignenden Menschen erzeuge – vermöge seiner Lage aber, als höchster der Planeten, gerade umgekehrt die äußerst spirituellen, allem Erdenleben abgekehrten ›religiosi contemplativi‹.«585 Im Raume dieser Dialektik spielt die Geschichte des Melancholieproblems sich ab. In ihr führt die Magie der Renaissance den Höhepunkt herauf. Während die Aristotelischen Einsichten in die seelische Doppelheit der melancholischen Gemütsanlage genauso wie die Antithetik des Saturneinflusses im Mittelalter einer rein dämonischen Darstellung dieser beiden, wie sie der christlichen Spekulation sich fügte, Platz gemacht hatten, trat mit der Renaissance aus den Quellen der ganze Reichtum alter Grübeleien neu zutage. Diesen Wendepunkt entdeckt und ihn mit der Wucht einer dramatischen Peripetie dargestellt zu haben, macht das hohe Verdienst und die höhere Schönheit der Arbeit von Giehlow aus. Der Renaissance, die die Umdeutung der saturnischen Melancholie im Sinne einer Lehre vom Genie mit einer auch im Denken der Antike niemals erreichten Rücksichtslosigkeit vollzog, stand nach dem Ausdruck Warburgs »die Saturnfürchtigkeit … im Mittelpunkte des Sternglaubens«.586 Schon das Mittelalter hatte des saturnischen Anschauungskreises in mannigfachen Umbildungen sich bemächtigt. Der Monatsbeherrscher, »der griechische Zeitgott und der römische Saatendämon«587 sind zum Schnitter Tod mit seiner Sense geworden, die nun nicht mehr der Saat, sondern dem Menschengeschlecht gilt, so wie es nicht mehr der Jahresumlauf mit seiner Wiederkehr von Aussaat, Ernte, Winterbrache ist, der die Zeit beherrscht, sondern das unerbittliche Abrollen jedes Lebens zum Tode. Dem Zeitalter aber, das die Quellen okkulter Natureinsicht um jeden Preis sich zu erschließen bestrebt war, stellte das Bild des Melancholischen die Frage, wie es gelingen könne, dem Saturn die Geisterkräfte abzulauschen und doch dem Wahnsinn zu entgehn. Die erhabene Melancholie, Melencolia »illa heroica« des Marsilius Ficinus, des Melanchthon588 galt es von der gemeinen und verderblichen abzulösen. Zu einer präzisen Diätetik des Leibes und der Seele tritt der astrologische Zauber: die Veredlung der Melancholie ist das Hauptthema des Werkes »De vita triplici« von Marsilius Ficinus. Das magische Quadrat, welches auf der Tafel zu Häupten der Dürerschen »Melancholie« sich eingezeichnet findet, ist das Planetensiegel des Jupiter, dessen Einfluß den trüben Kräften des Saturn sich widersetzt. Neben dieser Tafel hängt als Hinweis auf das Sternbild Jupiters die Waage. »Multo generosior est melancholia, si coniunctione Saturni et Iouis in libra temperetur, qualis uidetur Augusti melancholia fuisse.«589 Unter dem jovialischen Einfluß wandeln die schädlichen Eingebungen sich in segensreiche, Saturn wird zum Protektor der erhabensten Forschungen; die Astrologie selber gehört ihm zu. So konnte Dürer zu dem Vorhaben gelangen, »in den saturnischen Gesichtszügen auch die divinatorische Geisteskonzentration auszudrücken«.590
Die Theorie der Melancholie ist um eine Anzahl alter Sinnbilder kristallisiert, in die denn freilich erst die Renaissance mit beispielloser interpretativer Genialität die imposante Dialektik jener Dogmen hineingedeutet hat. Unter den Requisiten, die vor der Dürerschen Melancholie sich drängen, ist der Hund. Nicht zufällig will eine Schilderung des Aegidius Albertinus von dem Gemütszustand des Melancholikers an die Tollwut gemahnen. Nach alter Überlieferung »beherrscht die Milz den Organismus des Hundes«.591 Er hat dies mit dem Melancholiker gemein. Entartet jenes, als besonders zart beschriebene Organ, so soll der Hund die Munterkeit verlieren und der Tollwut anheimfallen. Soweit versinnlicht er den finsteren Aspekt der Komplexion. Andererseits hielt man sich an den Spürsinn und die Ausdauer des Tieres, um in ihm das Bild des unermüdlichen Forschers und Grüblers besitzen zu dürfen. »Ausdrücklich sagt Pierio Valeriano in seinem Kommentar zu dieser Hieroglyphe, daß derjenige Hund im Aufspüren und Laufen der beste wäre, welcher ›faciem melancholicam prae se ferat‹.«592 Auf dem Dürerschen Blatte zumal wird die Ambivalenz dieses Sinnbilds dadurch bereichert, daß das Tier schlafend dargestellt ist: kommen die bösen Träume aus der Milz, so sind doch auch die divinatorischen das Vorrecht des Melancholikers. Als Gemeingut von Fürsten und Märtyrern sind sie den Trauerspielen bekannt. Aber noch diese Wahrträume sind aus geomantischem Traumschlaf im Schöpfungstempel, nicht als erhabene oder gar heilige Einflüsterung zu verstehen. Denn alle Weisheit des Melancholikers ist der Tiefe hörig; sie ist gewonnen aus der Versenkung ins Leben der kreatürlichen Dinge und von dem Laut der Offenbarung dringt nichts zu ihr. Alles Saturnische weist in die Erdtiefe, darin bewährt sich die Natur des alten Saatengottes. Saturn gibt nach Agrippa von Nettesheim »den Samen der Tiefe und … die verborgenen Schätze«.593 Der Blick nach unten kennzeichnet dort den Saturnmenschen, der den Grund mit den Augen durchbohrt. So auch Tscherning: »Wem ich noch unbekandt/ der kennt mich von Geberden | Ich wende fort und für mein’ Augen hin zur Erden/| Weil von der Erden ich zuvor entsprossen bin/| So seh ich nirgends mehr als auff die Mutter hin.«594 Die Eingebungen der Muttererde dämmern aus der Grübelnacht dem Melancholischen auf wie Schätze aus dem Erdinnern; blitzschnell einschlagende Intuition ist ihm fremd. Zum vollen Reichtum ihrer esoterischen Bedeutung kommt die Erde, vormals als kaltes trocknes Element allein belangvoll, in einer wissenschaftlichen Gedankenwendung des Ficinus. Es ist die neue Analogie von Schwerkraft und gedanklicher Konzentration, mit der das alte Sinnbild in den großen Deutungsprozeß des Renaissancephilosophen sich einfügt. »Naturalis autem causa esse videtur, quod ad scientias, praesertim difficiles consequendas, necesse est animum ab externis ad interna, tamquam a circumferentia quadam ad centrum sese recipere atque, dum speculatur, in ipso (ut ita dixerim) hominis centro stabilissime permanere. Ad centrum vero a circumferentia se colligere figique in centro, maxime terrae ipsius est proprium, cui quidem atra bilis persimilis est. Igitur atra bilis animum, ut se et colligat in unum et sistat in uno comtempleturque, assidue provocat. Atque ipsa mundi centro similis ad centrum rerum singularum cogit investigandum, evehitque ad altissima quaeque comprehendenda.«595 Wenn hierzu Panofsky und Saxl gegen Giehlow bemerken, davon, daß Ficinus dem Melancholiker die Konzentration ›empfehle‹, dürfe nicht gesprochen werden,596 so sind sie im Recht. Mit einer Behauptung aber, die wenig bedeutet gegenüber der Analogienreihe, welche Denken – Konzentration – Erde – Galle umfaßt, und zwar nicht einzig und allein, um vom ersten zum letzten Gliede zu führen, sondern doch wohl auch in unverkennbarer Anspielung auf eine neue Deutung der Erde im alten Weisheitsgefüge der Temperamentenlehre. Verdankt doch diese alter Meinung nach ihre Kugelgestalt und damit, wie schon Ptolemäus fand, ihre Vollendung und zentrale Stellung im Weltraum der Konzentrationskraft. So dürfte denn auch Giehlows Vermutung, die Kugel des Dürerschen Blattes sei ein Denksymbol des Grübelnden nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen sein.597 Und diese »reifste, geheimnisvolle Frucht der maximilianeischen kosmologischen Kultur«,598 wie Warburg sie nennt, dürfte recht wohl für einen Keim gelten, in dem die Allegorienfülle des Barock, noch gebändigt von der Kraft eines Genius zu sprengender Entfaltung bereit liegt. Die Rettung älterer Symbole der Melancholie, wie dieses Blatt und wie die zeitgenössische Spekulation sie gab, ist doch an einem wohl vorbeigegangen, wie es denn auch der Aufmerksamkeit Giehlows und andrer Forscher sich entzogen zu haben scheint. Es ist der Stein. Sein Platz im Inventar der Sinnbilder ist ihm gewiß. Liest man bei Aegidius Albertinus vom Melancholiker: »Die Trübsal, als welche sonsten das Herz in Demut erweicht, machet ihn nur immer störrischer in seinem verkehrten Gedanken,