Umdrehen und Weggehen. Peter Strasser

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Umdrehen und Weggehen - Peter Strasser


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eines weiten Spektrums an Gelegenheiten und Hindernissen, die Rede sein. Das Prinzip, das uns dabei leiten wird, ist ein dialektisches: Man möchte sich dort, wo man gerade weilt – zu Hause, bei der Familie, bei Freunden, existenziell: auf Erden –, beheimaten; doch bleiben will man nur im Bewusstsein, nicht bleiben zu müssen.

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      In den – wie sie genannt werden – Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg (1917/18) von Franz Kafka gibt es eine kurze Fabel, eigentlich einen Klage-Aphorismus (Nr. 40), der von der „Zelle“ handelt, in der zu leben man auf Erden gezwungen wurde: Man hat seine Zelle zu hassen gelernt und hofft, in eine andere, neue Zelle verbracht zu werden, wohl wissend, dass man auch diese bald hassen wird. Aber in dieser unserer Hoffnung, so Kafka, schwinge die Hoffnung mit, beim Transport werde der „Herr“ zufällig den Gang entlangkommen und sagen: „Diesen sollt ihr nicht wieder einsperren. Er kommt zu mir.“

      Unser irdisches Schicksal scheint es zu sein, uns nicht umdrehen und weggehen zu können. Uns wurde ein Platz zugewiesen, es ist eine „Zelle der Existenz“, eine von unzähligen Zellen, die alle vom Sein bei Gott gleich weit entfernt sind; deshalb, so Kafka, der „beginnende Wunsch zu sterben“. Der Rest an Hoffnung, der bleibt, ist nicht von dieser Welt: Nur der „Herr“ selbst könnte uns befreien – von der Qual der Endlichkeit erlösen –, indem er uns zu sich nimmt.

      Aber was wäre, wenn ER uns zu sich genommen hätte? Kafkas Hoffnung ist von einer tiefen Zweideutigkeit erfüllt. Lag nicht der tiefste Grund unserer Verzweiflung darin, dass wir unsere Zelle nicht aus eigenen Stücken verlassen konnten? Dass die Zellentür nicht offen stand, nicht zu öffnen war? Statt auf die Zellenwände zu starren, wollten wir uns „umdrehen und weggehen“, nach draußen, wo uns keine Wände mehr daran gehindert hätten … ja, um was zu tun? Diese Frage erscheint dem Gefangenen des Lebens, der fortwährenden Banalität, der Qual des Existieren-Müssens, zunächst nichtig. Er will nur eines, er will raus! „Umdrehen und weggehen“ – darin beschlossen ist ein Phantom der Freiheit. Denn dass sich die Freiheit womöglich als die schlimmste aller Gefangenschaften entpuppen könnte, dieser existenzielle, gar metaphysische Notstand des Menschen, wird erst Thema, wenn die Freiheit bereits errungen ist.

      Nimm an, wir könnten uns von jedem Punkt aus umdrehen und weggehen, Abwendung wäre immer und überall möglich. Aber was wäre dadurch abgewendet? Welchem Schicksal wären wir entronnen? Und plötzlich beginnt es uns, den dann Freiesten unter den Freien, zu dämmern. Wir wären die zur Schicksalslosigkeit Befreiten: Unser Leben hätte keinen anderen Sinn mehr als den, welchen wir ihm willkürlich beimessen – und wäre das nicht bloß eine andere Art zu sagen, dass unser Leben, in all seiner Beliebigkeit, zugleich sinnlos sei?

      Und so müssten wir einsehen, dass dies, unsere uns auferlegte Schicksalslosigkeit, die schlimmste aller möglichen Zellen wäre. Die Zelle, die keine Wände hat, hat keinen Ausgang. Alles, worauf wir einst hofften, war, uns umdrehen und weggehen zu dürfen; doch ohne Wände, ohne Zellentüre, ohne jegliches Abwendungshindernis würde auch diese Hoffnung zunichtewerden.

      Und inwiefern vermöchte uns dann der „Herr“, der den Gang entlangkommt, dabei helfen, damit wir in die richtige Freiheit entlassen werden? Er würde uns in sein Haus mitnehmen, von dem es in den Evangelien heißt, dass es dort, „im Haus meines Vaters“ – so Jesus –, viele Wohnungen gebe. Dort könnte man sich „umdrehen und weggehen“, aber man bliebe aus gutem Grund.

      Womit wir es bei den „vielen Wohnungen“ zu tun haben, das ist – ganz gegen Kafkas Stimmungslage – die Einlösung der Paradies-Sehnsucht, ausgedrückt im Bild des Zuhauseseins: einem Sein, wohinein man nicht schicksalhaft verschlagen würde. Man könnte dieses Zuhause wieder verlassen, sonst wäre es keines; dort erst wäre der richtige Verweilort, das Sinnzentrum eines Lebens, von dem wir hoffen, es möge währen.

KAPITEL I

      DER RATTENFEHLSCHLUSS

      Es war der österreichische Verhaltensforscher, Nobelpreisträger und Zivilisationspessimist Konrad Lorenz, namentlich in seinem Buch Die acht Todsünden der Menschheit (1973), welcher vor den Verdichtungen warnte, die seiner Meinung nach bevorstanden: Zu viele Menschen, zu wenig Raum! Damit bezog er sich auf das rasche Wachstum der Menschheit einerseits, vor allem jedoch auf die Ballung der Menschenmassen in den großen Städten. Dort, so Lorenz, müsste die Gewalt ausbrechen, die eine Folge davon ist, dass die Menschen gezwungen sind, sich andauernd zu nahe zu kommen. Abwendung sei unmöglich. Drehe man sich um, geschehe dies, aufgrund mangelnden Platzes, notwendigerweise so, dass man sich in die Masse hineindrehe, aus der man sich herausdrehen wolle. Umdrehen und weggehen? Unmöglich, es sei denn, man werde zum Aussteiger, ziehe in die Wildnis, was aber – sofern es den Stadtbewohnern überhaupt als wünschenswert erscheine – ein frommer Wunschtraum bleiben müsse, noch dazu einer, der eine geringe Kenntnis der wirklichen Wildnis verrate.

      Ich lege jetzt Konrad Lorenz Sätze in den Mund, die er so nie gesprochen hat. Aber der Tenor stimmt, und ihn möchte ich hier aus Demonstrationsgründen verstärken. Denn in seinen Philippiken, seinen Standpauken und Brandreden, bezog sich Lorenz gerne auf Experimente mit Ratten. Sperrte man Ratten in einen derart engen Käfig, dass die Toleranzgrenze, die sie benötigten, um sich aus dem Weg zu gehen, unterschritten wurde, dann begannen sie ihre Nachbarn wegzubeißen. Aber nicht nur das: Der Stress, der sich in ihnen aufgrund der übergroßen Nähe aufbaute, nahm überhand und sie fingen an, sich selbst zu verletzen. Kurzum, das Ganze endete, falls es nicht von der Versuchsleitung abgebrochen wurde, in einem Gemetzel. Da auch der Mensch ähnliche Toleranzgrenzen hat – auch er ist ein Produkt der Evolution –, muss dieser Logik zufolge die zunehmende Dichte um einen herum verstärkt als unangenehm empfunden werden, bis sie schließlich im Kampf der Artgenossen endet. Da nun aber der Kampf in zivilisierten Gesellschaften nicht äußerlich, jedenfalls nicht unter Einsatz körperlicher Gewalt ausgetragen werden darf, wird er, solange es geht, verinnerlicht.

      Schon Norbert Elias, der bedeutende Theoretiker der westlichen Zivilisation – sein Werk Über den Prozess der Zivilisation (1939, 1949) gilt als Klassiker der Soziologie –, hatte, von Freud beeinflusst, die These vertreten, dass Fortschritt tiefgreifende Kosten habe. Vor allem muss der äußere Kriegsschauplatz „nach innen“ verlegt werden, in die Psyche des Einzelnen. Dieser darf seine Affekte nicht mehr „unzivilisiert“ ausleben, daher bleibt ihm nur übrig, sich zu beherrschen. Aber andauernde Beherrschung fordert ihren Tribut, wenn sie langwierig und breitflächig praktiziert wird. Es entstehen Neurosen, und am Ende steht womöglich ein psychischer „Zellenknall“, eine mörderische Handlung oder ein Amoklauf. Das gründet wesentlich in der Verdichtung der Umwelt, die uns emotional stresst, mit Hass erfüllt oder unerträglich anödet.

      Doch im Unterschied zu Lorenz wusste Elias den grundsätzlichen Beitrag der Kultur besser zu taxieren. Die Kultur, könnte man sagen, ist das gegen den biologischen Druck gerichtete Medium der Entdichtung. Es gibt kulturell eingeschliffene Verfahren, um aus der Enge der menschlichen Begegnungen den emotionalen Druck herauszunehmen, ja ihn erst gar nicht entstehen zu lassen, weil eine bestimmte „Interpretation“ oder symbolische Modulation der Dichte dazu führt, dass sich der Raum, in dem wir leben, erweitert.

      Wir alle kennen den Begriff des Respektabstands. Damit ist ein Instrument der sozialen Abstufungsbekundung gemeint. Je höherrangig das Gegenüber ist, umso größer wird der Abstand, den man einhalten sollte, um nicht die Intimsphäre, im Speziellen die Hoheitssphäre des Höhergestellten, zu verletzten. Gleichzeitig ist der Respektabstand auch ein Mittel, um sich durch die Errichtung einer imaginären Mauer andere Subjekte buchstäblich vom Leib zu halten.

      In letzter Zeit ist dieses Distanzierungsphänomen häufig in Diskussionen aufgetaucht, bei denen Frauen darüber klagten, dass ihnen ein Mann „zu nahe“ kam, sie also belästigte. Die beschuldigten Männer waren naturgemäß oft gegenteiliger Ansicht, obwohl sie meist die obligaten Worte und Gesten des Bedauerns nachlieferten: Man befand sich abends in einer Bar, man hatte etwas getrunken und die Kombination von Ort, Zeit und Amüsierbetrieb


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