Umdrehen und Weggehen. Peter Strasser

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Umdrehen und Weggehen - Peter Strasser


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keine zwanglose Abwendung von – exemplarisch gesprochen – mathematischen oder ethischen Wahrheiten, immer vorausgesetzt, man hat einmal begriffen, dass es sich insofern um Wahrheiten handelt, als für sie die besten bekannten Argumente sprechen. Der rationale Diskurs „verflüssigt“ nicht nur eingeschliffene Vorurteile und Fehlhaltungen, er bezieht seine Kraft vielmehr aus dem, was man vor dem Tribunal der Vernunft und damit vor sich selbst als einem wahrheitsstrebigen Wesen nicht einfach „hinter sich lassen“ kann.

      Menschen, die sich gegen die Einschränkung, nach ihrer eigenen Fasson zu leben, innerlich zur Wehr setzen, werden daher auch leicht gegen das sogenannte „Vernünftige“ aufbegehren. Da indessen das Vernünftige den unübersteigbaren Maßstab setzt, zumindest im Rahmen der aufgeklärten Kultur des Westens, wird unser Freiheitswille uns in eine unausgesprochene Distanz zum „zwanglosen Zwang“ des Diskurses setzen. Und ebenjene Distanz, weil im Kern unvernünftig und sogar unmoralisch, muss unausgesprochen bleiben.

      So entsteht ein reaktives Syndrom, das unter der Oberfläche des Common Sense und der Political Correctness wirkt: eine ihrerseits zwanghafte Form des Aufbegehrens gegen alles, was durch die Vernunft, ob alltäglich, wissenschaftlich oder ethisch, gedeckt wird. Das sogenannte Subversive, vom Dadaistischen oder Aggressiven vieler Kunstproduktionen bis hinein in die chronische Querdenkerei, mobilisierte, getarnt als Aufstand gegen das „Man“, gegen den gedankenlosen, dumpfen Mainstream, in der Tiefe den Widerstand gegen die Gravitationskraft der rationalen Diskurswelt. Diese ist – utopisch gesprochen – darauf ausgelegt, mittels des „zwanglosen Zwangs“ der besseren und besten Argumente aus der zerstrittenen Menschheit eine Überzeugungsgemeinschaft werden zu lassen.

      Im Kontext der Lebenskunst bleibt aber die Frage, ob es die eine Vernunft überhaupt gibt, wenn wir über das bloß Logische – „die Sonne kann nicht zugleich scheinen und nicht scheinen“, „zwei mal zwei ist gleich vier“ – hinausgehen. Gewiss, es gibt, aus Gründen des religiösen Glaubens, eine Anbindung an das Irrationale. Sie hat das Abendland nicht zuletzt mitgeprägt. Das Credo quia absurdum, demzufolge man gerade deshalb an heilige Dinge glaubt, weil sie absurd, unmöglich oder sogar widersprüchlich sind, schleudert den Gläubigen aus allen menschlichen und mitmenschlichen Bezügen. Es gilt nur, was geoffenbart wurde, und sei es der Auftrag zum Glaubenskrieg, der keine Rücksicht kennen darf.

      Aber sieht man von dieser Pathologie des lumen supranaturale, des übernatürlichen, von Gott gespendeten Lichts ab, dann wird man sensibel dafür bleiben, dass es im weiten Reich menschlicher – und irdischer – Vielfalt nicht bloß die eine Vernunft gibt. Es wäre wohl besser, von einer Allerleivernunft zu sprechen, welche der menschlichen Kondition besser angemessen ist. Gemeint ist eine kulturell flexible Vernünftigkeit, deren Kriterien keine haarscharfe Grenze zwischen dem transkulturell Rationalen oder Irrationalen festlegen. Auch wenn zum Beispiel die Einstein’sche Äquivalenz E = mc2 entsprechend dem Universalitätsanspruch der Naturwissenschaft ausnahmslos gilt (falls sie gilt), so werden weder die Tatsachen noch die Erlebnisse, noch die Gefühle des Alltags überall gleich interpretiert.

      Darin liegt der Kern unserer Toleranz. Er liegt nicht darin, dass wir bereit sind, gewisse Formen des – aus unserem Blickwinkel betrachtet – Unvernünftigen zu dulden. Eine solche Haltung ist scheintolerant, weil ihr die Minderschätzung aller abweichenden Meinungen, gemessen an der jeweils eigenen, zugrunde liegt. Wahre Toleranz ist bereit einzugestehen, dass andere Kulturen, andere Lebenswelten auch mit teilweise anderen Kriterien arbeiten, was die Frage des Vernünftigen betrifft.

      Der Glaube an Götter ist aus meinem Blickwinkel möglicherweise irrational, Ergebnis eines Aberglaubens, aber darf ich diese Überzeugung bruchlos verallgemeinern? Darf ich die westliche Apparatemedizin gegen die chinesische Heilkunde stellen? Woher nehme ich denn meine Gewissheit? Natürlich aus den festgefügten Konventionen und Regeln, die meine eigene Kultur grundieren. Wenn wir also auf den Diskurs unsere Hoffnung setzen, dann sollte es nicht jener herrische Diskurs sein, dem unsere Idee des Vernünftigen, das eine besondere Geschichte und Praxis hat, exklusiv zugrunde liegt. Nur so wird es möglich, sich friedfertig abzuwenden, ohne alle Andersvernünftigen in ihrer Selbstachtung zu beschädigen.

      Und das trifft auch für den „anderen“ zu, der in mir selbst wohnt. Teil der Lebenskunst muss es sein, dass ich mich unter Umständen zwanglos von meinen eigenen Überzeugungen abzuwenden vermag – sofern es sich nicht um pure Logik oder Prinzipienethik handelt, die, wie das Prinzip der gleichen Würde aller Menschen, streng universal ist. Der Taufscheinchrist in mir mag sich zum Buddhismus hingezogen fühlen. Doch dafür, dass ich mich von da nach dorthin bewege, brauche ich mich keineswegs zu verachten, bloß weil ich nicht imstande bin, meine Bewegung „diskursiv“ einzuholen, sie rational zu „verflüssigen“ – im Sinne der autoritären Standards meiner Form des „Diskurses“, dem die lebenskluge Allerleivernunft stets das Einfallstor des Irrationalismus und insofern ein Gräuel ist. Trotz seiner unleugbaren, unabdingbaren Friedensfunktion generiert der „zwanglose Zwang“ doch auch ein Abwendungsverbot und erzeugt insofern, trotz aller Zwanglosigkeit, eben auch Zwang.

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      Ich möchte allerdings vermeiden, dass das Ideal der einen Vernunft zugunsten der Freiheit, sich „umzudrehen und wegzugehen“, in Misskredit gerät. Das wäre eine Übersteuerung der lebenskünstlerischen Abwendungspraxis. Richtig verstanden, handelt es sich bei der einen Vernunft um ein Ideal, einen Horizont unseres Menschseins. Kant hätte von einem regulativen Prinzip gesprochen. Wir streben nach der Vernunft, so wie wir nach der Wahrheit streben. Unsere ideale Strebensrichtung darf uns jedoch nicht vergessen lassen, dass eine Voraussetzung der Zähmung menschlicher Bestialität gerade in der Anerkennung kultureller Vielfalt liegt. Diese beeinflusst nicht zuletzt auch unsere Methoden und Evidenzen, vernünftig zu sein. Dessen unbeschadet strebt jede Kultur danach, sich einer universellen Ratio zu befleißigen, deren Wahrheiten allgemeingültig sind – und so ist jeder humanen Zivilisation in ihrer Tiefe auch der Gedanke der einen Menschheit als Solidargemeinschaft nicht fremd, selbst wenn die Praxis der interkulturellen Konflikte, bis hin zu den großen Kriegen, eine andere Sichtweise nahezulegen scheint.

KAPITEL II

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