Karl Kraus: Ich bin der Vogel, den sein Nest beschmutzt. Karl Kraus H.
Читать онлайн книгу.Prater hinein, Kellner, Kavaliere und Kutscher hinter ihr her … Eine Lungenentzündung und der Tod brachten sie in unser Jahrhundert zurück.
Es ist eine durch alle Ewigkeit gültige Tatsache: dass Urkraft des Weibes nicht bloß die Schwachen anzieht und vertilgt, sondern die Starken belebt und verjüngt. […] Und dass Sinnengenuss und Schönheit nach dem wundervollen Plan der Weltordnung Zaubermittel sind und nach dem teuflischen Plan der Gesellschaftsordnung in den Giftschrank der Menschheit gesperrt wurden.
2Wienerisch für Zuhälter.
III. MENSCH UND NEBENMENSCH
Das Gefühl, das man bei der Freude des andern hat, ist in jedem Fall selbstsüchtig. Hat man ihm die Freude selbst bereitet, so nimmt man die Hälfte der Freude für sich in Anspruch. Die Freude aber, die ihm ein anderer vor unseren Augen bereitet, fühlen wir ganz mit: Die Hälfte ist Neid, die Hälfte Eifersucht.
Ich begeistere mich für den Ehrenpunkt, seitdem ich die Beobachtung gemacht habe, dass man einer unerledigten Affäre die Befreiung von lästiger Gesellschaft verdankt.
Auch die Dummheit hat Ehre im Leib, und sie wehrt sich sogar heftiger gegen den Spott als die Gemeinheit gegen den Tadel. Denn diese weiß, dass die Kritik recht hat; jene aber glaubt’s nicht.
Gesellschaft: Es war alles da, was da sein muss und was sonst nicht wüsste, wozu das Dasein ist, wenn es nicht eben dazu wäre, dass man da ist.
Man beobachte einmal, wie die anständigen Herren eine Frau grüßen, von der »man spricht«. In dem Gruß ist der abweisende Stolz der Gesellschaftsstütze mit der einverständlichen Kennerschaft des Markthelfers vereinigt. Für beides möchte man ihnen an die Gurgel fahren.
Ich hörte einen angeheiterten deutschen Mann einem Mädchen, das in eine Seitengasse einbog, die humoristisch deklamierten Worte nachrufen: »Da geht sie hin, die Schanddirne!« Es ist nicht anzunehmen, dass je ein Gesetz zustande kommt, welches erlaubt, deutsche Männer niederzuschießen, die mit einem einzigen Wort den vollständigen Beweis ihrer Unnützlichkeit auf Erden erbracht haben.
Die Behörden werden gegen das Publikum erst dann höflich sein, wenn das Publikum sich entschließt, in die Redaktionen der Tagespresse einzutreten. Die Redakteure aber werden erst dann gegen das Publikum aufrichtig sein, wenn es zum Eintritt in die Bürokratie entschlossen ist.
Wenn mich einer ansprechen will, hoffe ich noch bis zum letzten Augenblick, dass die Furcht, kompromittiert zu werden, ihn davon abhalten wird. Sie sind aber unerschrocken.
Ich sehe durch ein Fenster, und der Horizont ist mir durch ein Laffengesicht verlegt. Das ist tragisch. Ich habe nichts dagegen, dass es abscheuliche Gesichter gibt. Aber warum hat es die Optik so eingerichtet, dass ein Mensch einen Wald verdecken kann? Man kann wohl den Menschen wieder durch einen vorgehaltenen Stock verdecken. Aber auf alle Fälle kommt man beim optischen Betrug zu kurz. So dienen die Lichtstrahlen der Vermehrung des Menschenhasses.
Bei gleicher Geistlosigkeit kommt es auf den Unterschied der Körperfülle an. Ein Dummkopf sollte nicht zu viel Raum einnehmen.
Der Mensch denkt, aber der Nebenmensch lenkt. Er denkt nicht einmal so viel, dass er sich denken könnte, dass ein anderer denken könnte.
Gut und Blut fürs Vaterland! Aber die Nerven?
Ich schlafe nie nachmittags. Außer, wenn ich vormittags in einem österreichischen Amt zu tun hatte.
Gerne käme ich um die Konzession zum Handbetrieb einer Guillotine ein. Aber die Erwerbsteuer!
Wenn ich mir die Haare schneiden lasse, so bin ich besorgt, dass der Friseur mir einen Gedanken durchschneide.
Wenn man vom Raseur geschnitten wird, ist man immer selbst schuld. Ich zum Beispiel zucke zusammen, wenn der Raseur von Politik spricht, und die andern werden nervös, wenn er nicht von Politik spricht. In keinem Falle trifft den Raseur die Schuld, wenn man geschnitten wird.
Die ästhetischen Werte des Menschen scheinen bloß die Bestimmung zu haben, uns für eine Lumperei zu kaptivieren. Mich machen sie auf die Gefahr aufmerksam. Und ich würde mich gern von einem Wiener Kutscher überhalten3 lassen, wenn er’s eben nicht mit diesem echten Gemütston täte; und mir von einem italienischen Wirt die Gurgel abschneiden zu lassen, wäre mir ein Vergnügen, wenn’s eben nicht mit diesem träumerischen Augenaufschlag geschähe. Die Unbequemlichkeiten des Daseins nehme ich nur ohne ästhetische Entschädigung in Kauf, und wenn ich schon einen Verdruss habe, will ich mich nicht bei den malerischen Attitüden aufhalten.
Das Malerische und das Musikalische sind Argumente, die mit allen Einwänden fertig werden. Und es gibt Wirkungen auf die Nerven, denen sich der oppositionellste Geist nicht entziehen kann. Wenn alle Glocken läuten, umarme ich einen Gemeinderat.
Hysterische soll man vorsichtshalber vor einer Operation narkotisieren, die an einem andern ausgeführt wird. Und um ihnen jeden Schmerz zu ersparen, auch vor einer Operation, die an einem andern nicht ausgeführt wird.
Narkose: Wunden ohne Schmerzen. Neurasthenie: Schmerzen ohne Wunden.
Nichts kränkt den Pöbel mehr, als wenn man herablassend ist, ohne heraufzulassen.
Gewiss, der Künstler ist ein anderer. Aber gerade deshalb soll er es in seinem Äußern mit den anderen halten. Er kann nur einsam bleiben, wenn er in der Menge verschwindet. Lenkt er die Betrachtung durch eine Besonderheit auf sich, so macht er sich