Weihnachtsgeschichten. Charles Dickens
Читать онлайн книгу.Straße trafen. Guten Morgen, guten Morgen!«
Die Redenden und Zuhörenden trennten sich und mischten sich unter andere Gruppen. Scrooge kannte die Leute und blickte den Geist fragend an.
Der Geist schwebte weiter die Straße entlang.
Seine Hand wies auf zwei sich treffende Personen.
Scrooge hörte wieder zu, hoffend, daß er hier die Erklärung vernehmen werde.
Auch diese beiden kannte er genau. Es waren Kaufleute, sehr reich und von großem Ansehen. Er war immer bemüht gewesen, sich ihrer Achtung zu versichern, das heißt in Geschäftssachen, bloß in Geschäftssachen.
»Wie geht es?« fragte der eine.
»Wie geht es Ihnen?« fragte der andere.
»Gut«, sagte der erste. »Der alte Geizhals ist endlich tot, wissen sie es schon?«
»Ich hörte es«, erwiderte der zweite. »Es ist kalt, nicht wahr?«
»Wie sich das zu Weihnachten gebührt. Sie sind wohl kein Schlittschuhläufer?«
»Nein, nein. Ich habe an andere Dinge zu denken. Guten Morgen!«
Kein Wort weiter. So begegneten sie sich, so schieden sie.
In Scrooge regte sich erst Erstaunen, weil der Geist auf anscheinend so unbedeutende Gespräche Wert zu legen schien. Aber sein Gefühl sagte ihm, daß sie eine geheime Bedeutung haben müßten, und er grübelte darüber nach, was diese wohl sein möge. Sie konnten nicht auf den Tod Jakobs, seines alten Kompagnons, Bezug haben, denn dieser gehörte in die Vergangenheit, und sein Führer war der Geist der Zukunft ... Auch konnte er sich niemand von seinen näheren Bekannten denken, auf den er sie hätte beziehen können. Aber in der Gewißheit, daß, auf wen sie sich auch beziehen möchten, doch darinnen für ihn eine wichtige Mahnung liege, beschloß er, jedes Wort, das er vernahm, und jede Szene, die er schaute, getreulich in seinem Herzen zu behalten und namentlich seinen Schatten zu beobachten, wenn er erschien. Denn er erwartete von dem Benehmen seines künftigen Selbst die fehlende Aufklärung und die Lösung der Rätsel, die ihm jetzt so schwierig vorkamen.
Schon auf der Börse sah er sich nach seinem Ich um; aber ein anderer stand an seiner gewohnten Stelle, und obgleich die Uhr die Stunde angab, in der er gewöhnlich dort sich befand, erblickte er sich doch auch nicht unter dem Publikum, das sich durch den Eingang hereindrängte. Dieses überraschte ihn indessen wenig; denn er hatte schon lange die Absicht, sein Geschäft aufzugeben, und glaubte und hoffte in diesen zu sehen, wie sein Plan in der Zukunft verwirklicht sei.
Dunkel und bewegungslos ragte neben ihm das Gespenst mit seiner ausgestreckten Hand. Als er wieder in seiner nachdenklichen Haltung die Augen erhob, glaubte er der Richtung der Hand nach, daß die unsichtbaren Augen sich starr auf ihn richteten. Bei diesem Gedanken befiel ihn ein kalter Schauer.
Sie verließen das Geschäftsviertel und eilten nach einem abgelegenen Teil der Stadt, wo Scrooge nie vorher gewesen war, dessen Lage und schlechter Ruf ihm aber bekannt waren. Die Straßen waren schmutzig, schmal und krumm; die Läden und Häuser ärmlich; die Menschen verlumpt, betrunken, barfuß, häßlich. Gäßchen und Torwege strömten wie ebensoviele Kloaken Übelkeit erregende Dünste, Schmutz und Menschen in den Straßen; und das ganze Viertel schien erfüllt von Verbrechen, von Verkommenheit und Elend.
In einem der tiefsten Winkel dieser Heimat der Sünde und Schande war ein niedriger, dunkler Laden unter einem Wetterdach, wo Eisen, Lampen, Flaschen, Knochen und schmutzige Abfälle jeder Sorte verkauft wurden. Auf dem Fußboden innerhalb lagen ein Haufen verrosteter Schlüssel, Nägel, Ketten, Türangeln, Feilen, Geschäftswagen, Gewichte und altes Eisen in buntem Durcheinander. Geheimnisse, nach deren Lüftung wenige verlangen würden, wurden hier erzeugt und verborgen in Bergen widriger Lumpen, Massen ranzigen Fettes und ganzen Beinhäusern von Knochen. Mitten unter den Waren, womit er handelte, saß neben einem aus alten Ziegeln zusammengesetzten Kamin ein grauhaariger, fast siebzig Jahre alter Spitzbube, der sich vor der Kälte draußen durch einen faltigen Vorhang aus allerlei Lumpen, die auf eine Leine gehängt waren, geschützt hatte und seine Pfeife im ausgiebigen Behagen rauchte.
Scrooge und die Erscheinung gesellten sich zu diesem Mann, gerade als eine Frau mit einem schweren Bündel in die Trödlerei schlich. Aber sie war kaum eingetreten, als eine zweite Frau, auch mit einem Bündel, ihr folgte. Auf diese wieder kam dicht ein Mann hinterdrein in einem alten, abgetragenen schwarzen Anzug. Dieser Mann fuhr bei ihrem Anblick nicht weniger zusammen, als sie voreinander erschrocken waren. Nach einigen Augenblicken schweigenden Staunens, an dem auch der Alte mit der Pfeife beteiligt war, brachen sie alle drei in ein lautes Gelächter aus.
»Nun sage einer, die Leichenwäscherin würde die erste sein«, sagte die zuerst Eingetretene. »Sage einer, die Wärterin würde die zweite sein; und nenne jemand des Leichenbesorgers Gehilfen als den dritten. Sich mal, alter Joe, wie sich das trifft. Wie wir uns nicht alle drei hier begegnet sind, ohne daß wir die Absicht hatten.«
»Ihr hättet euch an keinem besseren Platz begegnen können«, sagte der alte Joe, die Pfeife aus dem Munde nehmend. »Kommt in die gute Stube, Ihr habt schon lange das Recht der Niederlassung dort, das wißt Ihr; und die beiden anderen sind auch keine Unbekannten. Wartet, bis ich die Ladentür geschlossen habe. Wie sie knarrt! Ich glaube, es gibt kein so rostiges Stück Eisen im ganzen Laden, wie die Türangeln; und ich weiß, es gibt keine so alten Knochen hier, wie meine. Hihi, wir passen alle zu unserem Geschäft. Kommt in die gute Stube.«
Die gute Stube war der Raum hinter dem Lumpenvorhang. Der Alte scharrte das Feuer mit einem alten Jalousiestabe, rückte den Docht seiner rauchigen Lampe (denn es war am Abend) mit dem Stiel seiner Pfeife empor und steckte diese wieder in den Mund.
Indessen er damit beschäftigt war, warf die zuerst eingetretene Frau ihr Bündel auf den Boden und setzte sich mit koketter Dreistigkeit auf einen Stuhl, dann legte sie die Hände auf die Knie und blickte die beiden anderen herausfordernd an.
»Nun, was gibt es hier für einen Unterschied, Mrs. Dilber? Jeder hat das Recht, für sich zu sorgen. Er tat dies auch immer.«
»Das ist richtig«, sagte die Wärterin. »Keiner tat es mehr.«
»Nun, warum schaut ihr euch da einander an, als hättet ihr gegenseitig Furcht? Wer ist der Gescheitere? Wir wollen doch einander nicht die Augen aushacken, meine ich!«
»Nein, sicherlich nicht«, sagten Mrs. Dilber und der Mann gleichzeitig. »Wir wollen das nicht hoffen.«
»Also schön«, rief die Frau, »das genügt. Wem schadet's, wenn wir so ein paar Sachen mitnehmen, wie die hier? Einer Leiche gewiß nicht!«
»Nein, gewiß nicht«, meinte Mrs. Dilber lachend.
»Wenn er sie, wie ein alter Geizhals, noch nach dem Tode behalten wollte», fuhr die Frau fort, »warum benahm er sich bei Lebzeiten nicht besser? Wenn er sich anders aufgeführt hätte, würde jemand um ihn gewesen sein, als er starb, statt daß er allein seinen letzten Atem aushauchen mußte.«
»Dies ist das wahrste Wort, was je gesprochen worden«, versetzte Mrs. Dilber.
»Es ist ein Gottesurteil.«
»Ich wollte, es wäre ein bißchen schwerer ausgefallen«, sagte die Frau, »und das wäre auch der Fall gewesen, verlaßt euch drauf, wenn ich mehr hätte erhaschen können. Mach das Bündel auf, Joe, und sag mir, was es wert ist. Sprich offen. Ich fürchte mich nicht, die erste zu sein, noch es die andern sehen zu lassen. Wir wußten recht wohl, daß wir Sorge hatten, bevor wir uns hier trafen. Aber es ist keine Sünde. Öffne das Bündel, Joe.«
Aber die Höflichkeit ihrer Freunde wollte das nicht gestatten, und der Mann in dem zerschlissenen schwarzen Rock brachte seine Beute zuerst. Es war nicht viel daran. Ein oder zwei Uhranhängsel, ein silberner Bleistift, ein paar Hemdenknöpfe und eine Schlipsnadel von geringem Wert war alles. Sie wurden von dem alten Joe untersucht und taxiert, worauf er die Summe, die er für jedes bezahlen wollte, an die Wand schrieb und zusammenrechnete, als er sah, daß sie alles hergegeben hatten.
»Das ist Eure Rechnung«, sagte Joe, »und ich gebe