Weihnachtsgeschichten. Charles Dickens

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Weihnachtsgeschichten - Charles Dickens


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Finger wies in keine andere Richtung.

      Scrooge eilte an das Fenster seines Kontors und blickte hinein. Es war noch ein Kontor, aber nicht mehr das seine. Die Möbel waren andere, und die Gestalt auf dem Stuhle war eine andere. Der Geist aber zeigte nach derselben Richtung wie früher.

      Scrooge trat wieder zu ihm und folgte ihm wieder nachdenkend, warum und wohin sie gingen, bis sie eine eiserne Gitterpforte erreichten. Er stand still, um sich vor dem Eintreten umzuschauen.

      Scrooge zu Füßen des dritten Geistes.

      Es war ein Kirchhof, – also hier ruhte der Unglückliche, dessen Namen er noch erfahren sollte, unter der Erde. Die Stätte war seiner würdig. Rings von hohen Häusern umgeben, überwachsen von Unkraut, das hier zum Tod aber nicht zum Leben gedeihend wucherte; vollgepfropft von zuviel Leichen; gesättigt von überreichem Genuß. Eine würdige Stätte!

      Der Geist stand zwischen den Gräbern still und wies auf eines hernieder. Scrooge nahte sich ihm zitternd. Der Geist war noch ganz so wie ehedem, aber er ahnte erschauernd eine neue Bedeutung in der düstern Gestalt.

      »Ehe ich zu dem Stein trete, den du mir weisest«, sagte Scrooge, »beantworte mir eine Frage. Sind dies ... die Schatten der Dinge, die sein werden, oder nur von Dingen, die sein können?«

      Beharrlich schweigend deutete der Geist auf das Grab herab, vor dem sie standen.

      »Die Wege des Menschen führen zu einem unvermeidlichen Ziel, wenn man auf ihnen beharrt«, sagte Scrooge. »Aber wenn man einen anderen Weg einschlägt, ändert sich das Ziel. Sage, ist dies auch mit dem der Fall, was du mir zeigen wirst?«

      Der Geist blieb so unbeweglich wie bisher.

      Scrooge näherte sich zitternd dem Grab, und als er der Richtung des Fingers folgte, las er auf dem Stein des öden Grabes seinen eigenen Namen: »Ebenezer Scrooge«.

      »Bin ich es, der auf jenem Sterbebett lag?« rief er und sank in die Knie.

      Der Finger deutete von dem Grabe auf ihn und wieder zurück.

      »Nein, das kann nicht sein, Geist, o nein!«

      Der Finger verharrte wie vorher.

      »Geist«, rief er verzweifelt und packte das Gewand der Erscheinung, »ich bin nicht mehr der Mensch, der ich ehedem war. Ich will ein anderer Mensch werden, als ich vor diesen Tagen war. Warum zeigst du mir das, wenn alle Hoffnung umsonst ist?«

      Zum erstenmal schien jetzt die Hand zu beben.

      »Guter Geist«, fuhr er fort, noch immer auf den Knien liegend, »dein eigenes Gemüt bittet für mich und hat Mitleid mit mir. Gib mir nur die Gewißheit, daß ich durch ein verändertes Leben die Schatten, die du mir gezeigt hast, ändern kann!«

      Die gütige Hand zitterte stärker.

      »Ich will Weihnachten in meinem Herzen ehren und versuchen, stets in seinem Sinn zu leben. Ich will in der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft leben. Die Geister von allen dreien sollen mir helfen. Ich will mein Herz ihren Lehren nicht verschließen. Oh, sage mir, ob ich die Schrift auf diesem Steine noch zu tilgen vermag.«

      In seiner Angst griff er nach der gespenstischen Hand. Sie versuchte, sich von ihm loszumachen, aber er war kräftig in seinem Flehen und hielt sie fest. Der Geist, noch stärker, stieß ihn zurück.

      Als Scrooge seine Hände zu einem letzten Flehen um Änderung seines Schicksals emporhob, sah er die Erscheinung sich verändern. Das einhüllende Gewand sank zusammen, der riesige Körper verging in Nebel und schwand schließlich zu einem Bettpfosten zusammen.

      Fünftes Kapitel

      Das Ende des Liedes.

      Ja, und es war sein eigener Bettpfosten. Es war sein Bett und sein Zimmer. Und was das Glücklichste und Herrlichste war, die Zukunft war sein, damit er sich bessern könne.

      »Ich will in der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft leben«, wiederholte Scrooge, als er aus dem Bett stieg. »Die Geister von allen dreien sollen in mir wirken. Oh, Jakob Marley, der Himmel und die Weihnachtszeit seien dafür gepriesen! Ich rufe es auf meinen Knien, alter Jakob, auf meinen Knien.«

      Er war von seinen guten Vorsätzen so erregt und begeistert, daß seine bebende Stimme ihm kaum gehorchen wollte. Er hatte während seines Ringens mit dem Geiste heftig geweint, und sein Gesicht war noch naß von den Tränen.

      »Sie sind nicht herabgerissen«, rief Scrooge, eine der Bettgardinen an die Brust drückend, »sie sind nicht herabgerissen. Sie sind noch da, ich bin noch da, die Schatten der Dinge, die noch kommen, können vertrieben werden. Ja, ich weiß es sicherlich, ich weiß es.«

      Währenddessen beschäftigten sich seine Hände mit den Kleidungsstücken. Er zog sie verkehrt an, zerriß sie, verlegte sie und machte allerhand Merkwürdiges damit.

      »Ich weiß gar nicht, was ich machen soll«, rief Scrooge in einem Atem weinend und lachend und mit seinen Strümpfen einen wahren Laokoon 11 umwindend. »Ich bin leicht wie eine Feder, glücklich wie ein Engel, lustig wie ein Schulbub, taumelnd wie ein Betrunkener. Fröhliche Weihnachten allen Menschen! Ein glückliches Neujahr der ganzen Welt! Hallo! Hussa! Hallo!«

      Er war in das Wohnzimmer gesprungen und blieb jetzt dort ganz atemlos stehen.

      »Da ist die Schüssel, in der die Grütze war!« rief Scrooge, indem er um den Kamin herumtanzte. »Da ist die Tür, durch die Jakob Marleys Geist hereinkam, da ist die Ecke, wo der Geist der diesjährigen Weihnachten saß, da ist das Fenster, durch das ich die herumschwirrenden Geister sah! Es ist alles richtig, es ist alles wahr, es ist alles geschehen. Hahaha!«

      Wirklich, für einen Mann, der so lange Jahre daran gar nicht mehr gewohnt war, war es ein treffliches Lachen, ein herrliches Lachen. Der Vater einer langen, langen Reihe herrlicher Gelächter!

      »Ich weiß nicht, welches Datum wir heute haben«, rief Scrooge. »Ich weiß nicht, wie lange ich unter den Geistern gewesen bin. Ich weiß gar nichts. Ich bin wie ein neugeborenes Kind. Das macht aber nichts, ist mir auch gleich, ich will so gern noch einmal ein Kind sein. Hallo! hussa! hallo!«

      Er wurde in seinen Jubelausbrüchen von dem Geläute der Glocken unterbrochen, die ihm so lustig zu tönen schienen, wie nie vorher. Bim bam, ding, dong, bim bam. Oh, herrlich, herrlich!

      Er lief zum Fenster, öffnete es und steckte den Kopf hinaus. Kein Nebel, keine dumpfe schwere Luft, ein klarer, heiter-glänzender, kalter Morgen, eine Frische, die das Blut wie im Tanz kreisen machte, goldenes Sonnenlicht, ein himmlischer Himmel, liebliche, klare Luft, fröhliche Glocken. Oh, herrlich, herrlich!

      »Was ist denn heute?« rief Scrooge einem Jungen in Sonntagskleidern zu, der vermutlich in den Hof getreten war, um sich draußen umzutun.

      »Was?« fragte der Knabe, aufs äußerste verblüfft.

      »Was haben wir heute für einen Tag, du schmuckes Kerlchen?« fragte Scrooge.

      »Heute?« antwortete der Knabe. »Aber es ist doch Weihnachtstag!«

      »Es ist doch Weihnachtstag«, sagte Scrooge zu sich selber. »Ich habe ihn nicht versäumt. Die Geister haben alles in einer Nacht vollbracht. Sie können alles, was sie wollen. Natürlich, natürlich. Holla, du schmuckes Kerlchen!«

      »Was gibt's?« antwortete der Junge.

      »Weißt du des Geflügelhändlers Laden an der zweitnächsten Straßenecke?« fragte Scrooge.

      »Aber warum nicht«, antwortete der Junge.

      »Ein gescheiter Junge«, sagte Scrooge. »Ein merkwürdiger Junge! Weißt du nicht, ob der extra große Puterbraten, der dort hing, verkauft ist? Nicht den kleinen Puter – nein, den großen.«

      »Was, der so groß ist wie ich?« antwortete der Junge.

      »Was für ein famoser Junge!« sagte Scrooge. »Es ist ein Vergnügen, mit ihm zu sprechen. Ja, mein Prachtjunge.«


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