Der gestohlene Bazillus. Herbert George Wells
Читать онлайн книгу.als Forscher auf dem Gebiet der Geisteskrankheiten, und alle meine Auseinandersetzungen der Tatsachen dienen bloß dazu, die allgemeine Annahme zu bestätigen, daß meine Geisteskrankheit eine Folge übermäßigen Studiums psychologischer Probleme ist. Träume von persönlicher Identität! Ach Gott! Vor zwei Tagen noch war ich ein gesunder, junger Mensch, vor dem das Leben offen dalag. Heute kriech' ich – – ein übellauniger, alter Mann – ingrimmig – verzweifelt – jammervoll – in einem großen, luxuriösen, fremden Haus herum – von jedermann als Irrsinniger angesehen – beobachtet – gefürchtet – gescheut ... Und in London fängt Elvesham sein Leben aufs neue an – in einem kraftvollen Körper – mit all dem Wissen und den Erfahrungen von siebenzig Jahren! Er hat mir mein Leben gestohlen.
Was eigentlich geschehen ist, weiß ich nicht genau. Im Studierzimmer sind Bände voll geschriebener Notizen, die sich hauptsächlich auf die Psychologie des Gedächtnisses beziehen – teilweise in Zahlen oder symbolischen Ziffern, die mir ganz und gar fremd sind. Ab und zu finden sich auch Anzeichen, daß er sich mit der Philosophie der Mathematik beschäftigt hat. Ich fasse es so auf: er hat die ganze Last seiner Erinnerungen, alles, was seine eigene Persönlichkeit ausmacht, von seinem alten, verbrauchten Gehirn auf das meine übertragen und hat – gleicherweise – meines in seinen verbrauchten Körper gelockt. Das heißt – er hat einfach die Körper vertauscht. Aber wie so etwas möglich sein kann – das steht außerhalb der Grenzen meiner Philosophie. Ich bin – solange ich zurückdenken kann – Materialist gewesen. Aber dies hier ist – unzweifelhaft – ein Fall von Loslösbarkeit des Menschen von der Materie ...
Ein verzweifeltes Experiment will ich noch versuchen. Ich schreibe dies nieder, eh' sich die Sache entscheidet. Heut' morgen gelang es mir – mit Hilfe eines Messers, das ich beim Frühstück heimlich beiseite geschmuggelt habe, ein im übrigen ziemlich in die Augen fallendes Geheimfach des Schreibpults aufzubrechen. Ich fand darin nichts als ein kleines, grünes Glasfläschchen mit einem weißen Pulver. Um den Hals der Flasche lief eine Etikette, darauf stand das eine Wort: »Erlösung«. Das bedeutet ja wohl – – ist wahrscheinlich – Gift! Ich kann gut verstehen, daß Elvesham mir Gift in die Hände gespielt hat ... Und ich wäre ja auch ganz überzeugt von seiner Absicht, sich auf diese Weise des einzigen Menschen zu entledigen, der gegen ihn zeugen könnte – – wenn er es nicht so sorgfältig versteckt hätte ... Ja, der Mann hat das Problem der Unsterblichkeit in der Praxis gelöst. Wenn nicht grade der Zufall ihm besonders übel mitspielt, so wird er in meinem Körper weiterleben, bis er alt ist, und wird dann – unter Beiseiteschiebung des alten – sich wieder der Jugend und Kraft eines neuen Opfers bemächtigen. Wenn man seine Herzlosigkeit bedenkt, so ist es geradezu grauenhaft, sich seine immer wachsende Erfahrung vorzustellen, mit der er ... Wie lang er wohl schon so von Körper zu Körper übergesprungen ist – –? Aber ich bin müde des Schreibens. Das Pulver scheint in Wasser auflösbar zu sein ... Der Geschmack ist nicht unangenehm ...
Hier endet die auf Mr. Elveshams Schreibtisch aufgefundene Erzählung.
Sein Leichnam lag zwischen Tisch und Stuhl ... Der letztere war zurückgeschoben – vermutlich im letzten Krampf des Sterbenden. Die Geschichte war in einer ganz verrückten Handschrift geschrieben – ganz verschieden von seiner gewohnten, peinlich sauberen Schrift. Bloß zwei seltsame Tatsachen bleiben noch zu erwähnen. Eine Beziehung zwischen Eden und Elvesham existierte ganz fraglos; denn das gesamte Vermögen Elveshams war dem jungen Mann vermacht. Bloß daß dieser sein Erbe nie antrat. Denn als Elvesham Selbstmord beging, war Eden – merkwürdigerweise – schon tot. Vierundzwanzig Stunden vorher war er – im Gedränge der Kreuzung von Gower Street und Euston Road, von einer Droschke überfahren und auf der Stelle getötet worden. So daß das einzige menschliche Wesen, das Licht in diese phantastische Erzählung hätte bringen können, außerhalb des Bereichs aller Fragen steht ... Ich überlasse also diese außergewöhnliche Angelegenheit ohne weiteren Kommentar dem persönlichen Urteil des Lesers ...
Der Zauberladen
Von weitem hatte ich den Zauberladen schon öfter gesehen; ein- oder zweimal war ich auch daran vorbeigekommen – ein Schaufenster voll von verführerischen kleinen Gegenständen – Zauberbällen, Zauberhennen, wundervollen Kegeln, Puppen, die bauchredeten, sämtlichem Zubehör zum Korbtrick, Kartenspielen, die aussahen, als wären sie ganz harmlos und all solchem Zeug. Aber nie war mir der Gedanke gekommen hineinzugehen, bis mich eines Tages Gip ganz unversehens am Finger zu dem Fenster hinlotste und sich derartig aufführte, daß ich ihn einfach hineinführen mußte. Ich hatte – aufrichtig gesagt – gar nicht daran gedacht, daß der Laden hier sein könnte – eine bescheidene Front in Regent Street, zwischen einer Kunsthandlung und einem Geschäft, wo Kücken, die eben aus ihren Patent-Brutapparaten gekrochen sind, herumlaufen –; aber es half nichts – er war da. Ich hatte immer geglaubt, er wäre weiter unten in der Nähe des Zirkus oder um die Ecke in Oxford Street oder gar in Holborn; jedenfalls hatte er mir immer ein bißchen aus dem Weg und nicht leicht zu erreichen geschienen – so eine Art von Fata-Morgana-Lage. Aber er war nun einmal hier – ganz unbestreitbar, und das dicke Ende von Gips Zeigefinger hämmerte gegen das Glas.
»Wenn ich reich wäre,« sagte Gip, mit dem Finger auf das ›Unsichtbare Ei‹ deutend, »so würde ich mir das kaufen. Und das da« – nämlich ›Das schreiende Wickelkind, völlig menschlich‹ – und das da« – ein geheimnisvolles Etwas, namens (wie ein sauberes kleines Schild besagte) ›Kaufe mich und überrasche deine Freunde!‹
»Und da,« sagte Gip, »unter den Rollen da verschwindet alles, einfach alles. Ich hab' es einmal in einem Buch gelesen.«
»Und dort, Väterchen, ist der ›Unsichtbare Groschen‹ – bloß daß sie es so 'rum hingelegt haben, und man nicht sieht, wie's gemacht wird.«
Gip, der liebe Junge, hat ganz die Wohlerzogenheit seiner Mutter geerbt; er machte nicht etwa den Vorschlag, wir wollten in den Laden gehen, oder quälte und quängelte; er lotste mich bloß so ganz instinktiv an einem Finger nach der Tür zu und zeigte sein Interesse recht deutlich.
»Das da,« sagte er und deutete auf die Zauberflasche ...
»Wenn du das hättest ...?« sagte ich, auf welche vielversprechende Frage hin er mit einem plötzlichen Aufstrahlen aufschaute.
»Dann könnt' ich es Jessie zeigen!« sagte er, wie immer auch an andere denkend.
»Es sind nicht einmal mehr ganz hundert Tage bis zu deinem Geburtstag, Gibbles,« sagte ich und legte meine Hand auf die Türklinke.
Gip antwortete nicht; aber er packte meinen Finger fester, und wir betraten den Laden.
Es war wirklich kein gewöhnlicher Laden; es war ein Zauberladen. Und all die großartige Überlegenheit, die Gip sonst, wo es sich einfach um Spielsachen handelt, zeigte, ließ ihn hier gänzlich im Stich. Er überließ die ganze Last der Konversation mir.
Es war ein kleiner, enger, nicht besonders glänzend erleuchteter Laden; die Glocke an der Tür gab einen jämmerlichen Ton von sich, als wir hinter uns zumachten. Einen Augenblick waren wir beide allein und konnten uns umsehen. Auf dem Glasdeckel, der den niederen Ladentisch bedeckte, stand ein Tiger in Papiermaché – ein ernsthafter, gutmütig aussehender Tiger, der unentwegt mit dem Kopf nickte; daneben ein paar Kristallkugeln, eine Porzellanhand, die Zauberkarten hielt, ein Satz Zauberfischgläser in verschiedenen Größen und ein recht aufdringlicher Zauberhut, der seine Federn schamlos preisgab. Auf dem Fußboden standen Zauberspiegel; einer, der lang und dünn machte, einer, in dem der Kopf aufquoll und die Beine gänzlich verschwanden, und wiederum einer, der einen ganz kurz und dick machte, wie eine Null. Und während wir uns noch daran belustigten, kam – so vermute ich wenigstens – der Ladeninhaber herein.
Jedenfalls stand er auf einmal hinter seinem Tisch. Ein merkwürdiger, brünetter, fahler Mensch – ein Ohr länger als das andere und ein Kinn wie die Spitze eines Stiefels.
»Womit kann ich dienen?« sagte er, seine langen Zauberfinger auf der Glasplatte ausspreizend. Worauf wir zusammenfuhren. Wir merkten erst jetzt, daß er da war.
»Ich möchte,« sagte ich, »ein paar einfache Tricks für meinen Kleinen.«