Der Kurier des Zaren. Jules Verne
Читать онлайн книгу.der Ausübung ihres Berufes zustatten. Der Engländer, Harry Blount, war Korrespondent des ›Daily Telegraph‹, und der Franzose, Alcide Jolivet, arbeitete für – ja, wen eigentlich? Auf direkte Fragen antwortete er stets scherzhaft, er korrespondiere mit seiner ›Cousine Madeleine‹. Trotz seiner zur Schau getragenen Redseligkeit war er sogar noch ein wenig verschwiegener als der Korrespondent des ›Daily Telegraph‹.
Beide übten ihren Beruf mit Leidenschaft aus. Es gab für sie kein Hindernis, sie setzten über Hecken und Flüsse, wenn es galt, die letzte Neuigkeit zu erjagen.
Zur Ehre der beiden Journalisten muss noch hinzugefügt werden, dass sie das Privatleben ihrer Umgebung stets achteten, also nur im besten Sinne des Wortes die »politischen und militärischen Korrespondenten« ihrer Blätter waren, wie man ihresgleichen seit Kurzem zu nennen pflegte.
Ihre Zeitungen geizten übrigens nicht mit Geld, das auch heute noch am schnellsten und sichersten zur besten Information verhilft.
In dieser Nacht vom fünfzehnten zum sechzehnten Juli waren beide Journalisten beruflich auf dem Hofball anwesend. Sie begegneten sich zum ersten Mal und beobachteten sich argwöhnisch, denn beide jagten im selben Revier. Andererseits suchte einer die Gesellschaft des anderen, um vielleicht noch eine Neuigkeit zu erfahren, die ihm selbst entgangen war.
Beide spürten an diesem Abend, dass etwas in der Luft lag. Nachdem General Kissoff den Salon verlassen hatte, versuchten sie vorsichtig, miteinander ins Gespräch zu kommen.
Alcide Jolivet begann die Unterhaltung mit einer ausgesprochen französischen Redewendung.
»Ein entzückendes Fest, nicht wahr?«, sagte er zu Harry Blount, und der antwortete kühl und sehr englisch: »Wirklich splendid! Habe schon Bericht telegraphiert.«
»Allerdings«, fuhr Jolivet fort, »musste ich meiner Cousine mitteilen …«
»Ihrer Cousine?«, wiederholte Blount erstaunt.
»Ganz recht, ich korrespondiere mit meiner Cousine Madeleine, und sie erwartet stets genaue und schnelle Nachrichten. Ich musste also meiner Cousine mitteilen, dass die Stirn unseres hohen Gastgebers leicht umwölkt war.«
»Das möchte ich nicht behaupten; ich fand seine Laune glänzend«, erwiderte Harry Blount, der seine wahre Meinung zu diesem Thema nicht preisgeben wollte.
»Also lassen Sie den Monarchen in den Spalten des ›Daily Telegraph‹ auch strahlen?«
»Natürlich.«
»Herr Blount«, fuhr Jolivet fort, »Sie erinnern sich doch noch der Ereignisse von Wilna im Jahre 1812. Dann wissen Sie auch, dass Zar Alexander während eines Balles die Nachricht erhielt, Napoleon habe den Njemen überschritten. Der Zar wusste genau, dass seine Herrschaft in Gefahr war, aber er zeigte sich nicht beunruhigter als …«
»… der Gastgeber des heutigen Abends, nachdem er von General Kissoff erfahren hatte, dass die Telegraphenleitung nach Irkutsk unterbrochen sei.«
»Sie kannten schon die Einzelheiten?«
»Aber sicher. Meine letzte Depesche kam nur bis Krasnojarsk«, sagte Blount selbstzufrieden.
Doch Jolivet ergänzte voller Genugtuung:
»Meine nur bis Udinsk. Dann wissen Sie natürlich längst, dass die Truppen in Nikolajewsk Marschbefehl erhalten haben und dass die Kosaken im Gouvernement Tobolsk zur Verteidigung aufgerufen worden sind.«
»Natürlich. Man wird einen interessanten Feldzug verfolgen können, Herr Jolivet.«
»Dann sehen wir uns vielleicht auf einem Terrain wieder, das weniger sicher ist als das Parkett dieser Salons … jedenfalls weniger glatt!« Mit diesen Worten fing Alcide Jolivet seinen Kollegen, der auszugleiten drohte, in den Armen auf.
Als sich die Journalisten trennten, wussten beide, dass keiner dem anderen auch nur eine Nasenlänge voraus war.
Nun wurden die Türen zu den angrenzenden Sälen geöffnet. Man sah mehrere große Tische, die verschwenderisch mit erlesenem Porzellan gedeckt waren. Der mittlere, der den Prinzen, Prinzessinnen und Mitgliedern des Diplomatischen Korps vorbehalten war, trug als Krönung einen Tafelaufsatz von unschätzbarem Wert aus Londoner Werkstätten. Rund um dieses Meisterwerk der Goldschmiedekunst funkelten im Glanz der Kerzen unzählige Stücke herrlichen Geschirrs aus den Manufakturen von Sèvres. Man begab sich gerade zur Tafel, als General Kissoff wieder eintrat und auf den Zaren zuging.
»Wie ist die Lage?«, fragte der Monarch sogleich.
»Tomsk schweigt, Majestät!«
»Sofort einen Kurier besorgen!«
Der Zar verließ den Großen Salon und begab sich in ein danebenliegendes einfach möbliertes Arbeitskabinett. Dort riss er ein Fenster auf, als fiele ihm das Atmen schwer. Dann trat er auf den Balkon hinaus und sog die laue Luft der schönen Julinacht in tiefen Zügen ein.
Vor seinen Augen lag im Mondlicht ein befestigter Stadtteil, aus dem sich die Silhouetten von zwei Kathedralen, drei Palästen und einem Waffenarsenal erhoben. Außerhalb der Befestigungsanlagen waren deutlich drei ausgedehnte Stadtteile zu erkennen, Kitai-Gorod, Beloi-Gorod und Semljano-Gorod. Diese großen chinesischen, europäischen und tatarischen Wohnviertel wurden überragt von unzähligen Türmen und Minaretten, von dreihundert Kirchen mit grüngoldenen Kuppeln und silbernen Kreuzen darauf. Ein Fluss mit vielfach gewundenem Lauf fing hier und da die Mondstrahlen ein. Dieser Fluss, jene Wohnviertel und der befestigte Stadtteil hier, die der Zar so nachdenklich betrachtete, das waren die Moskwa, Moskau und der Kreml, die alte Stadt der Moskowiter.
Zweites Kapitel
Russen und Tataren
Nun bestand also kein Zweifel mehr: Eine furchtbare Invasionsarmee drohte die sibirischen Provinzen der russischen Oberherrschaft zu entreißen. In diesem ungeheuer weiten Steppenland, das sich vom Ural bis zum Pazifischen Ozean und vom Arktischen Meer bis China erstreckt, lebten damals etwa zwei Millionen Menschen. Das ganze Gebiet war in sieben Gouvernements und Distrikte aufgeteilt, über die zwei Generalgouverneure als Vertreter des Zaren geboten. Irkutsk, die Hauptstadt Ostsibiriens, war der Sitz des einen, während der andere in Tobolsk in Westsibirien residierte. Ein Nebenfluss des Jenissei, die Tschuna, bildete die Grenze zwischen den beiden Herrschaftsbereichen.
Sibirien war sowohl Deportationsort für Verbrecher wie Exil für jene, die ein Ukas aus der Heimat verbannt hatte. Noch durchquerte keine Eisenbahn das riesige Land, obschon man bereits wusste, dass es unermesslich reiche Bodenschätze barg. Man hatte nur zwei Möglichkeiten zu reisen: sommers mit dem Pferdefuhrwerk, winters mit dem Schlitten. Eine direkte Verbindung zwischen der westlichen und der östlichen Grenze Sibiriens gab es allerdings schon, nämlich die Telegraphenleitung. Dieser Draht war nicht weniger als 8536 Kilometer lang und führte über die wichtigsten Stationen Sibiriens: Jekaterinburg, Tobolsk, Omsk, Kolywan, Tomsk, Krasnojarsk, Irkutsk bis zur Grenze der Mongolei.
Diese ungeheuer wichtige Leitung war unterbrochen worden, zuerst jenseits von Tomsk und nun auch noch zwischen Tomsk und Kolywan. Nur ein Kurier konnte jetzt noch eine Verbindung zu diesen Orten schaffen. General Kissoff war bereits auf der Suche nach dem geeigneten Mann.
Zunächst jedoch erschien der Chef der Polizei im kaiserlichen Arbeitskabinett.
»Treten Sie ein, General«, sagte der Zar kurz, »und teilen Sie mir alles mit, was Sie über Iwan Ogareff in Erfahrung gebracht haben.«
»Ogareff ist ein äußerst gefährlicher Mann, Majestät«, begann der Polizeichef.
»Er war doch Oberst, nicht wahr, und ziemlich intelligent?«
»Hochintelligent sogar, aber vollkommen disziplinlos und von zügellosem Ehrgeiz besessen. Er ließ sich sehr bald mit einer Verschwörergruppe ein und musste von seiner Kaiserlichen Hoheit, dem Großfürsten, degradiert und nach Sibirien verbannt werden.«
»Wann war das?«
»Vor