Der Kurier des Zaren. Jules Verne

Читать онлайн книгу.

Der Kurier des Zaren - Jules Verne


Скачать книгу
zweites Mal nach Sibirien gegangen, diesmal jedoch freiwillig.«

      Diesem Bericht fügte der Polizeichef mit leiserer Stimme hinzu: »Es gab einmal eine Zeit, da war die Reise nach Sibirien eine Reise ohne Wiederkehr.«

      »Mag sein. Aber solange ich lebe, ist und wird Sibirien ein Land sein, aus dem man wiederkehrt.«

      Der Chef der Polizei erwiderte zwar nichts, war aber ganz offensichtlich nicht einverstanden mit dieser Haltung des Zaren.

      »Ist Ogareff«, fragte der Zar weiter, »nicht von Sibirien aus auch noch ein zweites Mal nach Russland zurückgekehrt?«

      »Jawohl, doch den Zweck dieser Reise konnten wir nicht herausfinden. Wir haben ihn aber überwacht, denn ein Verbannter wird erst vom Tag seiner Begnadigung an wirklich gefährlich.«

      Die Miene des Zaren verdüsterte sich einen Augenblick, und der Polizeichef musste fürchten, zu weit gegangen zu sein. Der Monarch überhörte jedoch die indirekten Vorwürfe gegen seine Innenpolitik und fuhr mit der Befragung fort.

      »Wo befand sich Iwan Ogareff zuletzt, und was trieb er?«

      »Er war in Perm, schien keine bestimmte Beschäftigung zu haben, erregte aber auch durch seine Lebensweise keinerlei Verdacht. Er verließ die Stadt im März mit unbekanntem Ziel, und seither haben wir ihn aus den Augen verloren.«

      »Ich aber nicht!«, unterbrach der Zar den Bericht. »Man hat mir, unter Umgehung der Polizeibehörden, anonym gewisse Hinweise zukommen lassen, und angesichts der Ereignisse jenseits der Grenze habe ich allen Grund, an ihre Richtigkeit zu glauben.«

      »Wollen Majestät damit sagen, dass Iwan Ogareff bei der Invasion der Tataren die Hand im Spiele hat?«

      »Allerdings, General. Und ich kann Ihnen noch mehr sagen: Iwan Ogareff verließ Perm, um den Ural zu überqueren und nach Sibirien in die Kirgisische Steppe zu gehen. Dort gelang es ihm, die Nomadenvölker aufzuwiegeln. Daraufhin reiste er weiter nach Süden bis in das unabhängige Turkestan. Er fand die Khans von Buchara, Kokand und Kunduz bereit, ihre Tatarenhorden in unsere sibirischen Provinzen zu werfen und gemeinsam mit den Kirgisen den Aufstand gegen die russische Herrschaft in Asien zu entfesseln. Wir sind vom Ausbruch dieser Erhebung vollkommen überrascht worden. Alle Verbindungswege zwischen Ost- und Westsibirien sind abgeschnitten, und überdies trachtet der rachsüchtige Iwan Ogareff meinem Bruder nach dem Leben.«

      Während des Sprechens lief der Zar erregt auf und ab. Der Polizeichef unterdrückte jede Bemerkung, sagte sich aber im Stillen, dass Iwan Ogareff niemals eine Chance gehabt hätte, wenn der Herrscher aller Reußen nicht so oft politische Verbannte begnadigen wollte. Nach einigen Augenblicken des Schweigens begann der Zar, der sich jetzt in einen Sessel geworfen hatte, wieder zu sprechen. »Unser letztes Telegramm, das bis nach Nischnij-Udinsk durchgegeben werden konnte, war noch der Marschbefehl für die Truppen der Gouvernements Jenisseisk, Irkutsk und Jakutsk sowie der Amur- und Baikal-Provinzen. Außerdem ziehen die Regimenter von Perm und Nischnij-Nowgorod in Eilmärschen zum Ural. Leider werden sie mehrere Wochen brauchen, ehe sie auf die Tataren treffen können.«

      »Und seine Kaiserliche Hoheit, der Großfürst, hat keine Verbindung mehr mit Moskau?«

      »Nein, das Gouvernement Irkutsk ist von der Außenwelt abgeschnitten.«

      »Er weiß doch aber aus den letzten Depeschen von den Gegenmaßnahmen, die Euer Majestät befohlen haben, und aus welchen benachbarten Gouvernements er Hilfe erwarten kann?«

      »Er ist unterrichtet«, antwortete der Zar. »Was er aber nicht wissen kann, ist, dass er in Iwan Ogareff einen eingeschworenen Feind hat, der nicht nur die Rolle des Rebellen, sondern auch die des Verräters spielen will. Ogareff verdankte seine Verbannung meinem Bruder, der ihn unglücklicherweise noch nie zu Gesicht bekommen hat. Der Oberst plant nun, sich unter falschem Namen in Irkutsk in die Dienste des Großfürsten zu schleichen, und wenn die Tataren Irkutsk umzingelt haben werden, will er die Stadt und meinen Bruder ausliefern. Mein Bruder muss umgehend erfahren, dass sein Leben bedroht ist.«

      »Dazu brauchen wir einen intelligenten, mutigen Kurier.«

      »Den erwarte ich gerade.«

      »Und sehr schnell muss er sein, denn, Euer Majestät mögen mir die Bemerkung gestatten, ganz Sibirien ist der Rebellion verdächtig.«

      Der Zar fuhr auf. »General, Sie glauben doch nicht, dass die Verbannten mit den tatarischen Eindringlingen gemeinsame Sache machen könnten? Ich traue ihnen mehr Patriotismus zu!«

      Der Chef der Polizei glaubte in der Tat nicht an die Treue der Verbannten, versuchte aber, ausweichend zu antworten.

      »Verzeihung, Euer Majestät«, stammelte er, »in Sibirien gibt es außer den Exilierten noch andere Häftlinge.«

      »Die Verbrecher! Diesen Auswurf der Menschheit überlasse ich Ihnen, General; sie kennen kein Vaterland. Die Erhebung oder, besser, der Einfall ist aber nicht gegen den Zaren gerichtet, sondern gegen unser russisches Vaterland, das die Verbannten mit Recht noch einmal wiederzusehen hoffen. Nein, nie wird ein Russe auch nur einen Augenblick lang einen Tataren unterstützen, wenn es darum geht, unsere Vorherrschaft zu untergraben!«

      Selbst wenn der Zar dem Patriotismus der politisch Verbannten trauen wollte, blieb die Lage sehr ernst, denn ein Teil der kirgisischen Bevölkerung würde sich bestimmt den Eindringlingen anschließen.

      Das Volk der Kirgisen bildete drei »Horden«, die als die Große, die Mittlere und die Kleine bezeichnet wurden. Insgesamt zählten sie etwa 400 000 »Zelte«, das sind ungefähr zwei Millionen Seelen. Eine der Gruppen war unabhängig, während die beiden anderen die russische beziehungsweise die turkestanische Oberhoheit anerkannten. Das von der Großen Horde bewohnte Gebiet reichte bis zu den Gouvernements von Omsk und Tomsk. Sollten sich die Kirgisenvölker nun erheben, so konnten sie sehr wohl die russische Herrschaft in Sibirien östlich des Jenissei zu Fall bringen. Omsk als militärisches Zentrum Westsibiriens sollte die kirgisische Bevölkerung in Schach halten. Jetzt musste man befürchten, dass die Stadt schon sehr bedroht war. Offensichtlich hatten die Angreifer die Linie der kosakischen Grenzposten, die von Omsk bis Semipalatinsk reichte, schon mehrfach durchbrochen. Außerdem würden sich die Kirgisen der Tatarenherrschaft willig beugen: beide Völkerschaften waren Mohammedaner, während die Russen der griechisch-orthodoxen Kirche angehörten.

      Die Tataren, die damals das russische Reich bedrohten, stammten aus Turkestan. Ihre Herrscher nannte man Khans, deren Herrschaftsgebiete Khanate. Das Khanat von Buchara war zu jener Zeit am mächtigsten und einflussreichsten. Schon die Vorgänger des derzeitigen Feofar-Khan hatten sich mit Russland in kriegerische Auseinandersetzungen um die Oberherrschaft über die Kirgisen verwickelt. Man schätzte damals die Bevölkerung des Khanates auf zweieinhalb Millionen Seelen. Der ehrgeizige Feofar-Khan verfügte über dreißigtausend Reiter und sechzigtausend Mann Fußvolk, deren Zahl in Kriegszeiten verdreifacht werden konnte.

      Die herrliche Stadt Buchara inmitten eines reichen, fruchtbaren Landes, von Avicenna und anderen Gelehrten des zehnten Jahrhunderts schon gefeiert, war heute Mittelpunkt des islamischen Glaubens; Samarkand wiederum beherbergte in seinen Mauern das Grabmal des großen Tamerlan und jenen blauen Stein, auf dem sich jeder Khan bei Antritt seiner Regierung niederlassen musste; Karschi, dreifach von Mauern umgeben, durch Sümpfe geschützt, war fast uneinnehmbar und wie alle anderen Städte durch eine starke Streitmacht gesichert. So war das Khanat von Buchara ein Gegner, den man fürchten musste und nur mit erheblichen militärischen Kräften schlagen konnte. Feofar nun hatte sich, gestützt auf die anderen nicht weniger grausamen und räuberischen Khans, an die Spitze des Invasionsheeres gestellt, dessen Seele kein anderer als Iwan Ogareff war. Er war es, der Feofar-Khan und seine Horden auf die russische Grenze gehetzt hatte, wo die Kosaken der zahlenmäßigen Übermacht der Angreifer gewichen waren. Nun zog Feofar, ein moderner Dschingis-Khan, raubend, sengend und mordend von Stadt zu Stadt, reihte in sein Heer, was sich unterwarf, tötete, was ihm widerstand. Hinter ihm her zog der Tross seiner Frauen und Sklaven, die unausbleiblichen Anhängsel eines orientalischen Hofstaats.

      Wo standen seine Soldaten in dem Augenblick, als die Nachricht von der Invasion Moskau erreichte? Hatte


Скачать книгу