Der Kurier des Zaren. Jules Verne

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Der Kurier des Zaren - Jules Verne


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      »Hauptmann bei den Kurieren des Zaren.«

      »Sie kennen Sibirien?«

      »Ich bin Sibirier.«

      »Geboren in …?«

      »Omsk.«

      »Leben noch Verwandte in Omsk?«

      »Meine alte Mutter.«

      Der Zar unterbrach einen Augenblick die Befragung und wies auf den Brief, den er noch in der Hand hielt.

      »Ich vertraue Ihnen diesen Brief an, Michael Strogoff. Ich beauftrage Sie, ihn eigenhändig dem Großfürsten und niemand anderem zu übergeben.«

      »Der Großfürst wird den Brief erhalten.«

      »Mein Bruder ist in Irkutsk.«

      »Ich werde nach Irkutsk reisen.«

      »Sie werden ein Gebiet durchqueren müssen, das von Rebellen und Tataren unsicher gemacht wird, die ein Interesse daran haben, mein Schreiben abzufangen.«

      »Ich komme durch.«

      »Hüten Sie sich vor einem Verräter namens Iwan Ogareff. Er könnte Ihren Weg kreuzen.«

      »Ich werde ihm mit Vorsicht begegnen.«

      »Werden Sie den Weg über Omsk nehmen?«

      »Das ist die kürzeste Strecke.«

      »Wenn Sie Ihre Mutter besuchen, laufen Sie Gefahr, erkannt zu werden. Sie dürfen Ihre Mutter nicht sehen.«

      Michael Strogoff zögerte einen Augenblick. Dann sagte er:

      »Ich werde meine Mutter nicht besuchen, Majestät.«

      »Schwören Sie, dass nichts und niemand Sie bewegen kann, Ihren Namen und Ihren Auftrag preiszugeben.«

      »Ich schwöre es!«

      »Nehmen Sie also dieses Schreiben, von dem das Heil ganz Sibiriens und vielleicht sogar das Leben meines Bruders, des Großfürsten, abhängt.«

      »Ich werde es überbringen oder sterben.«

      »Ich bedarf aber Ihres Lebens.«

      »Ich werde leben und mein Ziel erreichen«, sagte Michael Strogoff.

      Die selbstsicheren und ruhig-bestimmten Antworten des Kuriers hatten den Zaren befriedigt. »So reisen Sie mit Gott, Michael Strogoff, reisen Sie für Russland, meinen Bruder und den Zaren!«

      Michael Strogoff grüßte militärisch, verließ sogleich das Arbeitskabinett des Kaisers und wenige Minuten später auch das Neue Palais.

      »Ich glaube, Sie haben bei der Wahl des Kuriers eine glückliche Hand gehabt!«, sagte der Zar, zu General Kissoff gewendet.

      »Ich hoffe es, und Euer Majestät können versichert sein, dass Michael Strogoff alles nur Menschenmögliche tun wird, um seinen Auftrag durchzuführen.«

      »Er scheint in der Tat ein ganzer Mann zu sein«, bemerkte der Zar abschließend.

      Viertes Kapitel

      Von Moskau nach Nischnij-Nowgorod

      Vor Michael Strogoff lag ein Reiseweg von nicht weniger als 5523 Kilometern. Früher, als es noch keinen Telegraphendraht zwischen dem Ural und der ostsibirischen Grenze gegeben hatte, war der Depeschendienst ausschließlich von Kurieren besorgt worden. Selbst wenn man diesen Boten die besten Transportmittel zur Verfügung stellte, brauchten die allerschnellsten achtzehn Tage für die Strecke von Moskau nach Irkutsk; die meisten aber benötigten vier bis fünf Wochen.

      Da Michael Strogoff weder Frost noch Schnee fürchtete, wäre er lieber zur kalten Jahreszeit gereist. Er hätte dann für die gesamte Reisestrecke den Pferdeschlitten benutzen können. Im Winter sind die mannigfachen Hindernisse, die das Fortkommen in Sibirien schwer machen, durch die hohe Schneedecke beseitigt. Kein Wasserlauf verlegt den Weg, und der Schlitten kann über die glatten Eisflächen nur so dahinfliegen. Natürlich bringt der Winter auch besondere Gefahren für den Reisenden. Er muss den dichten Nebel fürchten oder auch die ungeheuer heftigen Schneestürme, denen ganze Reisekarawanen zum Opfer fallen. Nicht selten machen ausgehungerte Wölfe zu Tausenden die Ebenen unsicher. Trotzdem hätte Michael Strogoff den Winter zur Ausführung seines Auftrags vorgezogen; denn eines war gewiss: die Kälte würde die tatarischen Eindringlinge in die Städte treiben, die Steppe würde nicht durch Marodeure unsicher gemacht, und jede Truppenbewegung wäre unmöglich. Bei der gefährlichen Lage der Dinge konnte er aber weder Zeit noch Stunde wählen, er musste unverzüglich abreisen.

      Diesmal kamen ihm nicht die üblichen Vorrechte eines Zarenkuriers zustatten. Niemand durfte auch nur den leisesten Verdacht haben, dass er im Sonderauftrag des Monarchen reiste, und das vom Feind überfallene Land wimmelte sicher von Spionen. So hatte ihm General Kissoff zwar eine großzügig bemessene Geldsumme übergeben, die die Reise erleichtern sollte, dazu aber nur einen einfachen Pass ohne den Zusatz ›im Sonderauftrag des Zaren‹, der dem Kurier sonst alle Türen öffnete.

      Der Pass war ausgestellt auf den Namen Nikolaus Korpanoff, Kaufmann aus Irkutsk. Das Papier berechtigte Korpanoff, sich nötigenfalls von ein oder zwei Personen begleiten zu lassen; ferner erlaubte es dem Inhaber, Russland zu verlassen, auch wenn die Regierung eine allgemeine Ausreisesperre verhängen sollte. Außerdem gestattete der Pass Michael Strogoff, Postpferde zu requirieren. Von dieser Erlaubnis durfte er aber nur Gebrauch machen, solange seine Person keinen Verdacht erregte, auf jeden Fall nur, solange er sich auf europäischem Boden befand. Danach musste er seinen eigenen Kräften und seiner Erfindungsgabe vertrauen. Für ihn gab es jetzt nur ein Ziel: sich einzuprägen, dass er der Kaufmann Nikolaus Korpanoff war, dass er keinerlei Sonderrechte in Anspruch nehmen durfte und Irkutsk unerkannt erreichen musste.

      Noch vor dreißig Jahren bestand die Eskorte eines Sibirienreisenden von Stand aus nicht weniger als zweihundert berittenen Kosaken, zweihundert Mann Fußvolk, fünfundzwanzig Baschkiren zu Pferde, dreihundert Kamelen, vierhundert Pferden, fünfundzwanzig Wagen, zwei tragbaren Booten und zwei Kanonen. Nur so ausgerüstet wagte man die Reise durch Sibirien.

      Michael Strogoff freilich durfte weder über Kanonen noch Reiter, noch Tragtiere verfügen. Er musste im Wagen, zu Pferd oder, wenn nötig, zu Fuß vorwärtskommen. Die ersten 1493 Kilometer zwischen Moskau und der russischen Grenze konnten kaum Schwierigkeiten bereiten. Eisenbahnen, Postkutschen, Dampfer, Pferde zum Wechseln waren allen Reisenden, folglich auch Michael Strogoff, zugänglich.

      Schon früh am Morgen des 16. Juli begab er sich zum Bahnhof. Statt seiner Uniform trug er einen einfachen Überrock, der in der Taille eng gegürtet wurde, weite Beinkleider und eng anliegende Stiefel. Dazu hatte er einen Reisesack geschultert. Dem Anschein nach war der Reisende unbewaffnet; er trug aber einen Revolver und das Waidmesser der sibirischen Jäger wohlverborgen unter dem Gürtel.

      Auf dem Bahnhof in Moskau herrschte großes Gedränge. Die russischen Bahnhöfe sind beliebte Treffpunkte, nicht nur für die Reisenden, sondern auch für bloße Zuschauer. Man benutzt sie fast als kleinen Umschlagplatz für Nachrichten.

      Die Eisenbahn sollte Michael Strogoff zunächst nach Nischnij-Nowgorod bringen. Die Stadt war Endstation einer Linie, die von St. Petersburg über Moskau führte, und der Zug würde für die 426 Kilometer etwa zehn Stunden brauchen. In Nischnij-Nowgorod konnte er sich dann für die Weiterreise zu Land oder zu Wasser entscheiden; auf jeden Fall musste er die schnellste Reisemöglichkeit zum Ural nutzen.

      Der Kurier machte es sich auf einem Eckplatz seines Abteils bequem. Er konnte ein braver Bürger sein, den seine Geschäfte nicht sonderlich beunruhigten und der sich die lange Reisezeit durch ein bisschen Schlaf verkürzen wollte. Da er nicht allein im Abteil war, schlief er sozusagen nur mit einem Auge, lauschte dafür aber umso aufmerksamer und mit beiden Ohren den Gesprächen der Mitreisenden. In der Tat war das Gerücht von der Erhebung der Kirgisen und dem Einfall der Tataren schon durchgesickert. Die vom Zufall hier zusammengewürfelten Reisenden sprachen


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