Der Kurier des Zaren. Jules Verne
Читать онлайн книгу.können.
Jedes Mal, wenn der Zug an einer Station hielt, erschienen jetzt Kontrolleure, die die Reisenden scharf musterten. Sie fahndeten im Namen des Polizeichefs nach Iwan Ogareff; denn die Regierung glaubte immer noch am ehesten, dass er sich im europäischen Teil Russlands aufhielt. War ein Reisender verdächtig, musste er den Beamten in das Polizeibüro folgen und sich ausweisen, während der Zug weiterfuhr, ohne sich um den unfreiwilligen Nachzügler zu kümmern.
Es ist zwecklos, mit russischen Polizeibeamten, die für ihre Rücksichtslosigkeit bekannt sind, verhandeln zu wollen. Sie haben militärischen Rang und handeln entsprechend als Soldaten, und sie sind auch das Mittel, mit dem sich ein allmächtiger Souverän Gehorsam erzwingt, der seinen Erlassen mehr als fünfzig fürstliche Titel voransetzen kann und der einen Doppelkopfadler im Wappen führt, dessen Krallen eine Erdkugel umklammern.
Michael Strogoff war durch seinen Pass vor allen Behelligungen durch die Kontrolleure geschützt.
Im Bahnhof von Wladimir hatte der Zug kurzen Aufenthalt, und neue Reisende stiegen zu. Im Abteil gab es noch einen freien Platz, der jetzt von einem jungen Mädchen belegt wurde. Ihr ganzes Gepäck bestand offenbar aus einer bescheidenen roten Ledertasche, die sie neben sich stellte. Da sie einen Rücksitz bekam, wollte Michael Strogoff dem Mädchen seinen eigenen Platz anbieten, doch sie lehnte mit einer leichten Verbeugung dankend ab und setzte sich für die mehrstündige Fahrt zurecht, ohne ihre zufälligen Reisegefährten auch nur einmal angesehen zu haben.
Das Mädchen mochte sechzehn oder siebzehn Jahre alt sein. Ihr Gesicht hatte rein slawische, also etwas strenge Züge, und sie würde einmal eher schön als nur hübsch werden. Unter ihrem Kopftuch quoll eine Fülle goldblonden Haares hervor, und ihre braunen Augen hatten einen unendlich sanften Ausdruck. Ihre Wangen waren schmal und blass, und der feingeschnittene Mund schien schon lange nicht mehr gelächelt zu haben. Ihre Gestalt musste, soweit man sie unter dem weiten Pelzübermantel erraten konnte, groß und schlank sein. Die Stirn der Reisenden war trotz der Jugendlichkeit des Mädchens bereits gut entwickelt, und die Form der unteren Gesichtspartie verriet einen Menschen von ungewöhnlicher Energie. Offenbar hatte das Mädchen schon manches durchlitten und sah auch keiner rosigen Zukunft entgegen. Dennoch schienen ihr Selbstvertrauen und ihre innere Ruhe unerschütterlich zu sein. Michael Strogoff war von ihren Gesichtszügen gefesselt. Er betrachtete die junge Reisende jetzt aufmerksam, doch so zurückhaltend, dass sie sich nicht belästigt fühlen musste. In ihrer Kleidung glaubte er die Tracht der Livländerinnen zu erkennen. Der ärmellose Pelz bedeckte eine dunkle Tunika über dem knöchellangen Kleid, dessen Saum eine bescheidene Stickerei zierte. Die kleinen Füße steckten in ledernen Halbstiefeln mit kräftiger Sohle, Schuhwerk also, das für eine längere Reise gedacht war.
Doch wohin fuhr das junge Mädchen so ganz ohne den Schutz der Eltern oder eines Bruders? Kam sie wirklich geradewegs aus den baltischen Provinzen, und wollte sie nach Nischnij-Nowgorod oder gar noch weiter über die östliche Reichsgrenze hinaus reisen? Wurde sie am Reiseziel von irgendwelchen Verwandten erwartet, oder würde sie auch dort so einsam sein, wie sie hier im Zugabteil zu sein glaubte? Jedenfalls zeigte ihr ganzes Auftreten, die Art, wie sie sich auf ihrem Platz für die Reise einrichtete und jede Belästigung der Mitreisenden ängstlich vermied, dass sie gewohnt war, stets auf sich gestellt zu handeln. Michael Strogoff beobachtete sie mit wachsendem Interesse; da er aber selbst verschlossen war, suchte er keine Gelegenheit zu einem Gespräch mit ihr.
Nur einmal, als der neben dem Mädchen sitzende Kaufmann im Schlafe mit dem Kopf hin- und hertaumelte und seine Nachbarin zu belästigen drohte, griff er ein. Er weckte den Mann und forderte ihn mit barschen Worten auf, sich rücksichtsvoller zu betragen.
Der ein wenig ungehobelte Kaufmann knurrte etwas von »Leuten, die sich in Dinge mischen, die sie nichts angehen«, stützte sich aber nach einem wenig freundlichen Blick Michael Strogoffs auf die gegenüberliegende Armlehne, so dass seine Nachbarin nun unbehelligt blieb. Strogoff wurde durch einen dankbaren Blick der jungen Mitreisenden belohnt.
Kurz vor Nischnij-Nowgorod bekam er Gelegenheit, den Charakter des Mädchens noch mehr schätzen zu lernen.
Der Zug wurde in einer scharfen Kurve von einem heftigen Stoß erschüttert und rollte noch eine Minute weiter auf dem hochgelegenen Gleiskörper, bis er zum Stehen gebracht werden konnte. Die Reisenden wurden durcheinandergeschüttelt und brachen in Geschrei aus. Man befürchtete ein Unglück, und schon ehe der Zug richtig stand, sprangen die Türen auf, und die entsetzten Menschen verließen Hals über Kopf die Abteile.
Michael Strogoffs erster Gedanke galt seiner Nachbarin. Doch während die anderen Reisenden schreiend zur Tür hinausdrängten, war sie auf ihrem Platz sitzen geblieben und höchstens noch ein wenig blasser geworden.
Sie wartete ruhig, und Michael Strogoff wartete mit ihr.
»Was für ein mutiges Mädchen!«, dachte er.
Inzwischen wurde die Gefahr beseitigt. Man hatte einen Achsenbruch am Gepäckwagen entdeckt, der erst den Stoß und dann das Anhalten des Zuges veranlasste. Es hätte in der Tat nicht viel gefehlt, und der Zug wäre entgleist und den hohen Bahndamm hinuntergestürzt. Es gab einen einstündigen Aufenthalt, dann wurde die Reise fortgesetzt, und um halb neun Uhr abends fuhr der Zug in Nischnij-Nowgorod ein.
Ehe die Reisenden aussteigen durften, erschienen wieder die unvermeidlichen Kontrollbeamten.
Michael Strogoffs Pass auf den Namen Nikolaus Korpanoff wurde nicht beanstandet. Auch die anderen Mitreisenden im Abteil, die ihr Ziel erreicht hatten, waren zu ihrem Glück unverdächtig.
Das junge Mädchen zeigte keinen richtigen Reisepass vor, denn im Landesinnern wurde keiner mehr verlangt. Dafür hatte sie eine Bescheinigung mit einem besonderen Siegel, und der Beamte las das Schreiben sehr aufmerksam durch. Dann ließ er sich die Angaben bestätigen:
»Sie sind aus Riga und reisen nach Irkutsk?«
»Ja«, erwiderte das Mädchen.
»Welche Strecke wollen Sie nehmen?«
»Die Strecke über Perm.«
»In Ordnung«, sagte der Beamte, »aber vergessen Sie nicht, den Schein hier in Nischnij-Nowgorod bei der Polizei abstempeln zu lassen.«
Das junge Mädchen nickte. Michael Strogoff schwankte jetzt zwischen Bewunderung und Mitleid für sie. Dieses halbe Kind wollte also nach Sibirien reisen, jetzt, wo das Land dort von Feinden überschwemmt war! Würde sie jemals ihr Reiseziel erreichen? Was konnte ihr unterwegs alles zustoßen!
Als die Wagentüren nach beendigter Kontrolle geöffnet wurden, wollte Michael Strogoff das Mädchen ansprechen, aber die junge Livländerin war augenblicklich ausgestiegen und in der Menschenmenge auf dem Bahnsteig untergetaucht.
Fünftes Kapitel
Eine Verordnung des Gouverneurs
Nischnij-Nowgorod, am Zusammenfluss von Wolga und Oka gelegen, ist die Hauptstadt des gleichnamigen Gouvernements.
Michael Strogoff musste von nun an auf den Schienenweg verzichten, denn hier endete die Bahnlinie. Je weiter östlich der Kurier des Zaren auf seiner Reise gelangte, desto langsamer und unzuverlässiger wurden die Beförderungsmittel.
Nischnij-Nowgorod hatte etwa 35 000 Einwohner, beherbergte aber zur Messe die zehnfache Menschenzahl in seinen Mauern. Die sonst recht düstere und stille Stadt war jetzt von einem lebhaften Menschengetümmel erfüllt. Kaufleute aller europäischen und asiatischen Rassen suchten hier miteinander Geschäfte zu machen.
Michael Strogoff hatte erst zu vorgeschrittener Abendstunde das Bahnhofsgebäude verlassen können. Trotzdem herrschte noch großes Gedränge in der Stadt, die von der Wolga in zwei Hälften getrennt und im oberen, auf einem Felsen gelegenen Teil von einer jener Festungen beschützt wird, die in Russland »Kreml« heißen.
Hätte Michael Strogoff länger in Nischnij-Nowgorod bleiben wollen und eine Herberge finden müssen, wäre er in Schwierigkeiten geraten; alle Hotels waren überfüllt. Er konnte aber auch nicht augenblicklich weiterreisen,