Der Kurier des Zaren. Jules Verne

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Der Kurier des Zaren - Jules Verne


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Preis und mit Gottes Hilfe finden!«, schloss er seine Überlegungen. »Sie kann wohl kaum noch gestern Abend mit einem Fuhrwerk die Stadt verlassen haben.« Auf keinen Fall aber durfte er sie hier auf dem Messeplatz suchen; denn der Tumult, den schreiende Polizisten und zurückschreiende Händler verursachten, nahm allmählich bedrohliche Formen an. Hier war die junge Livländerin bestimmt nicht.

      Für die Suche blieben ihm bis zur Einschiffung noch zwei Stunden. Er überquerte die Wolga und durchstreifte die Viertel auf dem anderen Ufer, wo sich nicht gar so viele Menschen drängten. Von der Oberstadt bis zur Unterstadt ließ er nicht eine einzige Straße aus, selbst in den Kirchen suchte er, in die sich Weinende und Furchtsame so gern flüchten. Zwei Stunden irrte er pausenlos ohne Erfolg durch die Stadt, während ihn ein Gedanke peinigte. Es war zwar unwahrscheinlich, dass das Mädchen von der neuen Verordnung noch nichts erfahren hatte, da sie sich notgedrungen auch für die kleinste Nachricht, die mit Sibirien zusammenhing, interessieren musste. Sollte sie aber aus irgendeinem Grund doch nichts davon wissen, musste sie es spätestens an der Dampferanlegestelle von einem unbarmherzigen Beamten erfahren. Und diesen Schrecken wollte er ihr ersparen.

      Um elf Uhr gab Michael Strogoff die Suche auf. Wegen der verschärften Lage wollte er seinen Pass doch lieber noch bei der Polizei abstempeln lassen. Ihn traf die ganze Verordnung zwar nicht – in seinen Papieren war ja für diesen Fall der entsprechende Vermerk gemacht –, er wollte aber doch ganz sicher gehen, dass seiner Abfahrt nichts im Weg stände.

      In der Präfektur herrschte ungeheurer Andrang. Einerseits hatte man den Fremden wohl befohlen, die Provinz zu verlassen, andererseits gestattete man ihnen die Abreise erst nach der Erledigung von allerlei Formalitäten. Ohne diese Vorsichtsmaßnahme hätten ja Russen, die mit den Tataren gemeinsame Sache machen wollten, leicht in irgendeiner Verkleidung die Grenze überschreiten können. Um dergleichen Grenzübertritte zu verhindern, hatte man ja gerade den ersten Paragraphen der Verordnung erlassen. Die Leute wurden also fortgeschickt und brauchten doch Erlaubnis, gehen zu dürfen!

      So füllte eine bunte Mischung aus fahrendem Volk, Zigeunern, aber auch Kaufleuten aus Persien, der Türkei, aus Indien und China den Innenhof und die Schreibstuben des Polizeigebäudes.

      Jeder war in Eile, denn die Transportmittel mussten bei der großen Zahl der Ausgewiesenen bald knapp werden, und die Polizeibeamten kannten gewiss keine Gnade für die unfreiwillig Säumigen. Michael Strogoff bahnte sich mit Hilfe der Ellenbogen einen Weg durch den Hof. Zum Büro oder gar Schreibtisch eines Beamten durchzudringen war schon weit schwieriger. Hier verhalfen ihm einige Worte, die er einem Beamten ins Ohr flüsterte, und ein paar Kopeken zum Erfolg. Der Beamte führte ihn in ein Vorzimmer und versprach, ihn bei seinem Vorgesetzten zu melden.

      Während der Wartezeit schaute er sich ein bisschen um, und wen erblickte er da zusammengesunken auf einem Bänkchen? Ein junges Mädchen, das offensichtlich vor Verzweiflung nicht mehr aus noch ein wusste. Michael Strogoff täuschte sich nicht: Es war die junge Livländerin.

      Sie hatte tatsächlich nichts von der Verordnung gehört und war zur Polizei gekommen, um sich das Durchreisevisum zu holen. Die Beamten hatten es ihr verweigert, denn die letzten Verordnungen machten alle vorher erteilten Visa ungültig; sie konnte nicht nach Sibirien fahren.

      Michael Strogoff war überglücklich, das Mädchen gefunden zu haben. Sie errötete leicht, als sie den Reisegefährten erkannte, und wie ein Schiffbrüchiger sich noch an ein Stück Treibholz klammert, so wollte sie sich gerade instinktiv an Michael Strogoff wenden, als er in das Zimmer des Polizeibeamten gerufen wurde. Da war sein Plan gefasst. Er machte nicht die geringste Bewegung, die das Mädchen oder ihn hätte verraten können, betrat das Amtszimmer und erschien nach drei Minuten bereits wieder im Vorzimmer, diesmal in Begleitung eines Polizisten.

      In der Hand hielt Michael Strogoff den Pass, der ihm sämtliche Wege nach Sibirien öffnete. Er ging geradenwegs auf die junge Livländerin zu, sagte »Schwester …« und ergriff sie bei der Hand. Sie verstand und erhob sich, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern.

      »Wir haben die Erlaubnis, nach Irkutsk weiterzureisen. Komm jetzt, Schwester!«

      »Ja, brechen wir auf, Bruder!« Sie ergriff die Hand des jungen Mannes, und Seite an Seite verließen sie die Präfektur.

      Siebtes Kapitel

      Stromabwärts auf der Wolga

      Kurz vor Mittag rief ein Glockenzeichen des großen Raddampfers zahlreiche Menschen zur Anlegestelle. Es kamen nicht nur jene, die wirklich abreisen durften, sondern auch die anderen, die gerne abgereist wären. Die Kessel der ›Kaukasus‹ standen schon genügend unter Dampf. Nur leichter Rauch kräuselte sich noch über dem Schornstein, während dicke Dampfwolken dem Abzugsrohr und den Sicherheitsventilen entquollen. Natürlich überwachte die Polizei die Abfahrt der ›Kaukasus‹. Reisende, deren Papiere nicht völlig einwandfrei waren, wurden gnadenlos abgewiesen. Zahlreiche Kosaken ritten den Kai auf und ab. Sie sollten die Polizeibeamten im Notfall unterstützen, aber die ganze Einschiffung vollzog sich ohne Zwischenfälle.

      Zur angegebenen Zeit ertönte das letzte Glockenzeichen, die Leinen wurden gelöst, die Schaufeln der mächtigen Räder fielen klatschend aufs Wasser, und bald glitt die ›Kaukasus‹ zwischen den beiden Stadtteilen Nischnij-Nowgorods hindurch.

      Michael Strogoff und die junge Livländerin waren ohne Schwierigkeiten an Bord gelangt. Wir erinnern uns: Der Pass auf den Namen Nikolaus Korpanoff berechtigte den Inhaber, sich für die Reise nach Sibirien eine Begleitperson zu wählen. Die beiden jungen Leute reisten also als Geschwisterpaar und mit ausdrücklicher Erlaubnis der kaiserlichen Polizei. Sie saßen jetzt im Heck des Schiffes und blickten auf die Stadt zurück, die von den letzten Verordnungen so schwer getroffen war.

      Michael Strogoff hatte das Mädchen noch nicht angesprochen. Er überließ es ihr, das Gespräch zu eröffnen, wann sie es wünschte. Sie dachte zunächst nur daran, die Stadt hinter sich zu lassen, in der sie ohne das unerwartete Eingreifen ihres Beschützers hätte zurückbleiben müssen. Wenn sie auch nicht sprach, so dankte sie ihm doch mit Blicken.

      Die Wolga oder Rha, wie sie bei unseren Vorvätern hieß, ist der gewaltigste Fluss Europas. Ihr Lauf geht über 4300 Kilometer. Das ein wenig trübe Wasser wird von Nischnij-Nowgorod an durch den Zusammenfluss mit der Oka aus Zentralrussland wesentlich verbessert. Man hat die Gesamtheit der russischen Flüsse und Kanäle treffend mit dem Bild eines Baumes verglichen, dessen Zweige bis in die entferntesten Teile Russlands reichen. Die Wolga bildet den Stamm dieses Baumes, seine Wurzeln aber sind ihre siebzig Flussarme, mit denen sie ins Kaspische Meer mündet. Schon vom Gouvernement Twer an ist sie über die gesamte Länge ihres Laufes schiffbar.

      Die Schiffe, die die Route zwischen Perm und Nischnij-Nowgorod befuhren, brauchten nicht lange für die 373 Kilometer bis Kasan. Die Dampfer trieben mit der Strömung, die die Fahrgeschwindigkeit noch um zwei Meilen in der Stunde erhöhte. Von hier an aber mussten sie die Kama stromaufwärts bis Perm fahren, so dass die ganze Reise doch etwa sechzig Stunden dauerte.

      Der Dampfer war sehr gut ausgerüstet, und die Reisenden konnten nach Wunsch und Geldmitteln zwischen drei Passagierklassen wählen. Michael Strogoff war es gelungen, zwei Kabinen in der ersten Klasse zu bekommen, so dass sich seine Begleiterin jederzeit zurückziehen und allein sein konnte.

      Die ›Kaukasus‹ war auf dieser Fahrt sehr überfüllt. Viele asiatische Kaufleute hatten es für das Beste gehalten, Nischnij-Nowgorod bei der ersten sich bietenden Gelegenheit zu verlassen. In der ersten Klasse begegnete man Armeniern in langen Gewändern mit mitra-ähnlichen Kopfbedeckungen, Juden mit hohen kegelförmigen Mützen, Chinesen in ihrer blauen, violetten oder schwarzen Landestracht, Türken mit Turban, Tataren mit buntgestickten Stiefeln und über der Brust reichverzierten Kleidern. Alle hatten ihr umfängliches Gepäck irgendwie im Schiff oder auf dem Oberdeck verstauen und für den Transport sicher eine erhebliche Geldsumme zahlen müssen; denn sie durften nur zwanzig Pfund Freigepäck mitführen.

      Im Bug der ›Kaukasus‹ war das Gedränge noch schlimmer. Hier gab es nicht nur Fremde, sondern auch Russen, denen die Verordnung ja nicht verboten hatte, in ihre Heimatorte diesseits des Ural zurückzukehren.


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