Der Kurier des Zaren. Jules Verne

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Der Kurier des Zaren - Jules Verne


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Herberge mit reicher Tafel beschert, so dass er für die Stadt Nischnij-Nowgorod recht lobende Worte fand.

      Harry Blount dagegen war es böse ergangen. Zunächst hatte er sich vergeblich um ein Abendessen bemüht und schließlich unter freiem Himmel übernachten müssen. Kein Wunder, dass er einen grollenden Artikel über diese Stadt plante, in der die Wirte Fremde von den Türen wiesen, Gäste, die ohnehin schon bereit wären, sich für eine Unterkunft »physisch und moralisch misshandeln« zu lassen.

      Michael Strogoff dagegen schien dem Messetreiben völlig gelassen, fast gleichgültig zuzuschauen. Er schlenderte umher, hatte eine Hand in der Tasche stecken und hielt mit der anderen die lange Pfeife. Doch ließen seine zusammengezogenen Brauen erkennen, wie sehr er seine innere Ungeduld zügeln musste. Zwei Stunden lief er nun schon durch die Stadt und kehrte, fast gegen seine Absicht, immer wieder zum Messeplatz zurück. Dabei entging ihm nicht, dass allmählich jene Kaufleute von Unruhe ergriffen wurden, deren Handelspartner aus Zentralasien stammten. Mochten die Taschenspieler und Seiltänzer ihr Treiben fortsetzen, ihre Geschäfte waren mit keinem Wagnis verbunden; der Handel aber erlahmte sichtlich unter dem Eindruck des Tatareneinfalls in Sibirien.

      Noch eines fiel dem Beobachter auf: In Russland gibt es Uniformen an jedem Ort, bei jeder Gelegenheit, und natürlich pflegten auch auf der Messe von Nischnij-Nowgorod Soldaten, Polizisten und Kosaken in großer Zahl für Ordnung zu sorgen. An diesem Morgen aber waren sie aus dem Stadtbild verschwunden. Man hielt sie in den Kasernen zurück.

      Dafür gab es umso mehr Offiziere, die in großer Eile Botschaften aus dem Gouverneurspalast in alle Himmelsrichtungen trugen. Immer neue Stafetten jagten von Wladimir heran, wurden zum Ural hin weitergeleitet. Unaufhörlich wechselten die Depeschen zwischen Moskau und St. Petersburg. Die Lage Nischnij-Nowgorods so nahe der sibirischen Grenze erforderte besondere Vorsichtsmaßnahmen. Man hatte nicht vergessen, dass die Stadt im 14. Jahrhundert zweimal Beute jener Tataren gewesen war, deren Nachkommen jetzt unter der Führung Feofar-Khans durch die Kirgisische Steppe heranjagten.

      Der Polizeipräfekt teilte die Last der Arbeit mit dem Gouverneur. Tag und Nacht mussten seine Beamten Dienst tun und den Stadtbewohnern und Fremden, die die Büros belagerten, Auskünfte erteilen. Michael Strogoff war gerade wieder einmal auf dem Hauptmesseplatz angekommen, als sich das Gerücht verbreitete, der Polizeipräfekt sei dringend zum Gouverneur gerufen worden. Bald danach hieß es, eine ungewöhnliche Verordnung solle bald verkündet werden; es gab Mutmaßungen aller Art.

      »Die Messe soll geschlossen werden!«, meinten die einen.

      »Das Regiment Nischnij-Nowgorod muss sicher ausrücken«, vermuteten andere – »Die Tataren stehen schon vor Tomsk!«, wussten wieder andere zu melden. – »Der Polizeipräfekt kommt!«, erscholl es plötzlich von allen Seiten.

      Lautes Geschrei erhob sich, verebbte aber bald und machte lautloser Stille Platz. Jeder spürte, dass gleich eine schwerwiegende Verordnung bekannt gemacht werden musste. Eine Abteilung Kosaken begleitete den Polizeipräfekten und bahnte ihm mit rücksichtslosen Stößen den Weg durch die Menge.

      Schließlich hatte der hohe Beamte die Mitte des Messeplatzes erreicht, und die Umstehenden konnten sehen, dass er ein Papier in der Hand hielt.

      Endlich verlas er mit erhobener Stimme den Inhalt des Schreibens: »Verordnung des Gouverneurs von Nischnij-Nowgorod:

      1 Kein russischer Untertan darf das Land verlassen.

      2 Alle Fremden asiatischer Herkunft haben das Land binnen vierundzwanzig Stunden zu verlassen.«

      Sechstes Kapitel

      Bruder und Schwester

      Viele Händler wurden von dieser Verordnung schwer getroffen; doch erforderte die politische Lage so strenge Maßnahmen.

      »Kein russischer Untertan darf das Land verlassen« – sollte Iwan Ogareff noch diesseits der Grenze sein, konnte er gar nicht mehr oder nur unter erheblichen Schwierigkeiten zu Feofar-Khan stoßen, dem auf diese Weise ein wichtiger Unterführer entzogen wurde.

      »Alle Fremden asiatischer Herkunft haben das Land binnen vierundzwanzig Stunden zu verlassen«; durch diese Verordnung schaffte man sich auch mit einem Schlag alle fahrenden Händler und Zigeuner vom Hals, die sich durch ihre Herkunft den Tataren und Mongolen verbunden fühlten. »So viele Köpfe, so viele Spione«, dachte man nicht ohne guten Grund.

      Dennoch wirkten die beiden Anordnungen wie Blitzschläge auf die Stadt Nischnij-Nowgorod; ihre Folgen wurden hier viel schmerzlicher empfunden als an irgendeinem anderen Ort des Reiches.

      Einheimische, die jenseits der Grenze Geschäfte abzuwickeln hatten, konnten nicht mehr reisen; denn die Anordnung war Gesetz, erlaubte also keine Ausnahme.

      Auch der zweite Paragraph der Verordnung war eindeutig: Alle Fremden asiatischer Herkunft mussten augenblicklich ihre Waren packen und des Weges ziehen, auf dem sie vor Kurzem erst hergekommen waren. Schwer betroffen wurde auch die große Schar des fahrenden Volkes, lagen doch vor diesen Leuten tausend Kilometer Marsch bis zur nächsten Grenze; denn ihnen war selbst der Weg durch die sibirische Steppe verlegt, und sie mussten sich nach Süden zum Kaspischen Meer, nach Persien, Turkestan oder in die Türkei wenden. Kein Posten am Ural würde sie hier schon die Grenze überschreiten lassen.

      Kein Wunder also, wenn sich nach Bekanntwerden der Verordnung Protestgemurmel erhob, das aber von den Kosaken und der Polizei schnell zum Verstummen gebracht wurde.

      Augenblicklich begann die vollkommene Auflösung des riesigen Marktes. Die Zeltbahnen über den Verkaufsständen wurden zusammengefaltet, die kleinen Wanderbühnen zerlegt. Tanz und Gesang erstarben, die Feuer gingen aus, und die ausgemergelten Pferdchen wurden vor die Wohnwagen gespannt. Polizisten und Soldaten trieben mit Peitsche und Stock die Säumigen an und rissen selber Zelte ein, auch wenn das arme Zigeunervolk noch drinnen mit dem Packen der Habseligkeiten beschäftigt war. Bei dieser Eile musste der Messeplatz bis zum Abend schon vollständig geräumt sein, und Nischnij-Nowgorod würde wieder in tiefe Stille versinken.

      Michael Strogoff war bei der Verlesung der Verordnung augenblicklich jener seltsame Wortwechsel eingefallen, den er am Vorabend im Zigeunerquartier belauscht hatte. »Väterchen selbst wird uns dahin schicken, wo wir hingehen wollen«, hatte der Alte gesagt. ›Väterchen‹, das war der Name, der im Volke für den Zaren gebraucht wurde. Woher konnten diese Leute gestern schon von den Verordnungen des heutigen Tags wissen, und wohin wollten sie ziehen? Ihr Verhalten war jedenfalls verdächtig, zumal sie offenbar aus der Anordnung des Gouverneurs noch ihren Nutzen ziehen konnten.

      Das Bild der Zigeuner wurde aber sogleich von einer anderen Erinnerung verdrängt. Die junge Livländerin war ihm wieder in den Sinn gekommen.

      »Armes Mädchen!«, entfuhr es ihm wider Willen. »Jetzt kommt sie ja auch nicht mehr über die Grenze!«

      Er hatte recht: Das Mädchen stammte aus Riga, war Livländerin und somit Russin und konnte das russische Territorium nicht mehr verlassen. Ihr Pass wurde sicher für ungültig erklärt. Doch gefiel sich Michael Strogoff in dem Gedanken, ihr auf irgendeine Weise behilflich sein zu können. Eines wusste er allerdings nur zu gut: Selbst wenn es ihm gelang, ihr zum Grenzübertritt zu verhelfen, musste der weitere Weg nach Irkutsk für das Mädchen unendlich gefährlich und anstrengend werden. Gleich ihm würde sie versuchen müssen, die Linie der Feinde unbemerkt zu durchbrechen. Außerdem verfügte sie sicher nur über eine Geldsumme, die für eine normale Reise berechnet war, und das Fortkommen unter den augenblicklichen Verhältnissen würde sicher weit kostspieliger als in Friedenszeiten sein.

      »Nun gut«, sagte er sich schließlich, »sie reist ja zunächst auch nach Perm, und ich kann nicht umhin, ihr zu begegnen. Vielleicht kann ich ihr behilflich sein, ohne dass sie es merkt.« Doch dann fiel ihm noch etwas ein. Bisher hatte er nichts weiter im Sinn gehabt, als dem Mädchen einen uneigennützigen Dienst zu erweisen. Vielleicht aber konnte ihm ihre Begleitung ebenfalls von Nutzen sein! Ihre Gegenwart würde jeden Verdacht gegen seine Person zerstreuen. Ein Mann, der allein durch die Steppe zog, konnte sehr wohl für einen Kurier des Zaren gehalten werden. In Begleitung des Mädchens


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