TAG DER ABRECHNUNG (Shadow Warriors 2). Stephen England

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TAG DER ABRECHNUNG (Shadow Warriors 2) - Stephen England


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      In der Kälte, auf sich allein gestellt, das war er. Er hatte es von jenem Moment an gewusst, als er sein Bild groß auf Rhoda Stevens Fernsehschirm prangen sah, zusammen mit dem Fahndungsaufruf des Bureaus. Eine schlechte Aufnahme, verschwommen … aber sein Leben war damit vorbei gewesen. Und seine Tage auf der Flucht hatten gerade erst begonnen.

      Harry sprang auf die Beine und ein leicht sardonisches Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Er strich mit seiner behandschuhten Hand über den Empfänger der Kalaschnikow, spürte das kalte Metall durch das Neopren. Tief in sich drin hatte er die ganze Zeit gespürt, dass es einmal so kommen würde.

       21:15 Uhr

       Das Black Rooster

       Washington, D.C.

      Eine Sache, die unweigerlich in einer gewissen sozialen Unbeholfenheit unter Spionen mündete, war der universelle Drang, mit dem Gesicht zur Tür zu sitzen. Bernard Kranemeyer wertete es daher als ein Zeichen des Respekts, dass Thomas und Tex ihm diesen Platz überlassen hatten.

      Des Respekts, und in dem Maße, wie es ihnen möglich war, auch des Vertrauens. Er war lange genug durch die Hölle gegangen, um sich dieses zu verdienen.

      Thomas war bereits bei seinem zweiten Dark&Stormy angelangt, als der DCS endlich zum eigentlichen Punkt ihres Treffens kam. Er zog ein kleines HP-Notebook aus der Umhängetasche an seiner Seite, stellte es auf den Tisch und schaltete es ein.

      Als der Computer lief, kramte er einen USB-Stick aus seiner Manteltasche und steckte ihn an der Seite in den kleinen Rechner. Kurz darauf erschien eine Datei auf dem Bildschirm.

      »Ist es das, was ich glaube, das es ist?«, fragte Tex, der seine dunklen Augen zu obsidianfarbenen Dolchen zusammenkniff und Kranemeyer über den Tisch hinweg musterte.

      Der Direktor verzog seinen Mund zu einem knappen Lächeln.

      »Ich habe kurz darüber nachgedacht, mir die Dokumente einfach vorn in die Unterhose zu stopfen, aber …« Er zuckte mit den Achseln. »Datenklau hat sich seit den Tagen von Sandy Berger ziemlich gewandelt.«

      »Wieso fangen wir nicht einfach damit an, was für eine Datei das ist und was sie außerhalb der Agency zu suchen hat?«, unterbrach ihn Thomas, der sich den letzten Rest Rum von den Lippen leckte. Plötzlich war er überhaupt nicht mehr durstig.

      Kranemeyer seufzte. »Sie haben wahrscheinlich schon gehört, dass ich einen Anruf von Nichols erhielt, kurz nachdem er heute Morgen auf eigene Faust handelte und verschwand.«

      Die beiden Männer nickten. »Während des Anrufs benutzte Nichols den Notfallcode Freefall

      Thomas und Tex tauschten einen kurzen Blick miteinander aus. »Nie davon gehört.«

      »Das sagte Lasker auch«, nickte der DCS. »War lange vor Ihrer Zeit.« Er räusperte sich. »Es war Ende November des Jahres 2000, und die Lage im Westjordanland spitzte sich gerade zu.« Dann schnaubte er. »Okay, streichen wir das – wann war die Lage in diesem gottverlassenen Landstrich jemals entspannt?«

      Vom anderen Ende der Bar, wo eine Gruppe von Leuten Dart spielte, brandete Gelächter auf, und Kranemeyers Augen suchten instinktiv den Raum ab. Keine sichtbaren Gefahren. »David Lay war damals das dritte Jahr Station Chief in Tel Aviv, was bedeutete, dass die Operation RUMBLEWAY seiner Leitung unterstand. Ich war noch beim Militär, landete für die Dauer der Mission aber in Langleys Operations Directorate.«

      Er deutete auf den Bildschirm. »Das sind die Missionsunterlagen für RUMBLEWAY. Nichols empfing mich am Ben-Gurion-Flughafen und weihte mich auf dem Weg in die Botschaft in alles ein. Er kam mir wie ein Kind vor … aber wie sich herausstellte, hatte er da schon beinahe ein ganzes Jahr Black-Ops-Erfahrung hinter sich. Er kannte die Sprachen, die Kultur und die wichtigsten Akteure in der Region. Hinter vorgehaltener Hand nannte man ihn schon den wiedergeborenen Lawrence von Arabien. In den Tagen vor 9/11 gab es niemanden, der die Region besser kannte als Nichols, und niemanden, der größeren Respekt vor den Menschen und ihrer Religion hegte. Es gab Zeiten, da fragte ich mich, ob er vielleicht selbst ein Moslem war. Aber wie sich herausstellte, war das falsch.«

      »Worum ging es bei RUMBLEWAY?«, warf Tex leise ein.

      »Es war kurz nach dem Bombenanschlag auf die USS Cole im Jemen. Die NSA hatte Zahlungen der PLO an die Familien der Selbstmordattentäter zurückverfolgen können. An sich nicht ungewöhnlich, aber sie gruben tiefer und fanden heraus, dass ein Mitglied der PLO die Operation unterstützte und mit Bin Laden zusammenarbeitete. Eine recht ungewöhnliche Verbindung, aber so läuft das eben im Terrorismus.«

      Ein ironisches Kichern drang über seine Lippen, als sich der DCS in seinem Stuhl zurücklehnte. »Er war für beinahe zwanzig Jahre auf dem Radar des Mossad gewesen. ‘93 hatten sie versucht, ihn auszuschalten, aber die Regierung unter Clinton bekam davon Wind und bedrängte Rabin, den Todesbefehl aufzuheben. Dieser Drecksack – den ich Yusuf nennen werde – war Arafats Cousin.«

       20:29 Uhr Ortszeit

       Ein Appartement

       Dearborn, Michigan

      Das Rattern von Gewehrfeuer aus dem laut aufgedrehten Fernseher übertönte beinahe das Geräusch eines Schlüssels, mit dem die Vordertür aufgesperrt wurde. Beinahe, aber nicht ganz.

      Nasir Khalidi sah gerade noch rechtzeitig von seinem Videospiel-Controller auf, um seinen Bruder durch die Tür kommen zu sehen. Als er sich wieder dem Fernsehschirm zuwandte, lag seine Spielfigur tot am Boden, von der Kugel eines Scharfschützen niedergestreckt.

      Jamals Gesicht spiegelte sein nur allzu bekanntes Missfallen wider. »Diese Zeit, die du mit diesem Ding verschwendest …«

      Ein Kichern entwich Nasirs Lippen, während er die RELOAD-Taste betätigte. »Ist eine nette Art, sich zu entspannen, nachdem man für acht Stunden hinten an einem Müllwagen hing.«

      Fünf Sekunden, dachte er bei sich. Gleich geht es los.

      Dieses Mal waren es eher zehn Sekunden, dann drang Jamals Stimme aus der Küchenecke, die das immergleiche Mantra wiederholte. »Eine nette Art zu entspannen? Ein Werkzeug der Imperialisten, wolltest du eigentlich sagen.« Wie ein Hase aus seinem Bau war sein Bruder urplötzlich wieder aus der Küche aufgetaucht und starrte ihn mit verschränkten Armen an. »Du weißt schon, dass die amerikanische Regierung diese … diese Spiele dazu benutzt, ihre Kreuzritter auszubilden und sie darauf zu konditionieren, unsere Brüder im Haus des Islam umzubringen.«

      Nasir zuckte mit den Schultern und trank einen weiteren Schluck aus seinem Mountain Dew. »Wenn du es so sehen willst …«

      »Wenn ich es so sehen will?«

      »Entspann dich«, antwortete Nasir, der mit einem Tastendruck den Fernseher und die Spielkonsole ausschaltete. Offenbar würde es wieder eine von diesen Nächten werden. »Du hast deinen Sinn für Humor verloren, Bruder. Was ist nur aus dir geworden?«

      Er sah, wie sein Bruder sich auf die Zunge biss, als würde er eine passende Antwort parat haben, die er jedoch nicht sagen wollte.

      Nach einer Weile kehrte Jamal zu der Couch zurück und blieb zögernd hinter Nasir stehen. »Vergib mir, Bruder … eine Familie sollte sich nicht auf diese Weise streiten. Was aus mir geworden ist? Ich habe zu einem Glauben zurückgefunden, von dem ich dachte, ich hätte ihn für immer verloren«, flüsterte er ehrfürchtig, und für einen Moment schien er wieder der Bruder zu sein, den Nasir von früher kannte. »Und das hat meinem Leben wieder einen Sinn gegeben. Dasselbe wünsche ich mir auch für dich.«

      Er drückte Nasirs Schultern. »Das ist alles, was sich unser Vater für uns gewünscht hätte.«

      Und dann war er verschwunden und ließ Nasir allein in dem beengten, nunmehr dunklen Wohnzimmer ihres kleinen Appartements zurück.

      Familie. Sie bedeutete ihnen alles. Sie war die einzige Verbindung zurück in eine Welt, die sie einmal gekannt hatten. Dieses


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