TAG DER ABRECHNUNG (Shadow Warriors 2). Stephen England
Читать онлайн книгу.Sein Blick wanderte über Carters Arbeitsplatz. Auf der einen Seite des LCD-Monitors stand eine große Thermoskanne Kaffee, auf der anderen ein bereits deutlich dezimierter Karton mit Bagels. »Sie sind gestern Abend nicht nach Hause gegangen, oder?«
Ein Kopfschütteln. »Sehen Sie sich das mal an.«
Lasker gab sich einen Ruck und ließ seinen Stuhl über den Boden rollen, bis zu Carter hinüber. »Was gibt’s?«
Der Analytiker öffnete ein Browserfenster und rief ein Bild von Harry Nichols auf. Eine alte Aufnahme, Überwachungskamera-Qualität. »Dieses Bild ging gestern ans Bureau und die Polizeikräfte raus. Es wurde verändert.«
»Sind Sie sicher?«
Carter stieß ein gereiztes Ächzen aus. »Ich bin Fotoanalytiker – natürlich bin ich sicher. Jemand hat absichtlich daran herumgeschraubt, bevor es rausgeschickt wurde.«
»Wer hatte Zugang dazu?«
»Genau das kann ich nicht sagen … aber ganz eindeutig wollten sie es dem Bureau damit schwerer machen.« Carters Gesicht verfinsterte sich. Wut kroch in seine rotgeäderten Augen. »Und das ist nicht das Einzige. Jemand führt uns an der Nase herum.«
Nach ein paar weiteren Klicks tauchte ein weiteres Foto auf dem Bildschirm auf. »Was halten Sie davon?«
Das Bild zeigte ganz eindeutig die Unterseite eines menschlichen Armes. Den Arm eines toten Mannes.
»Ein Freund beim Bureau hat mir die hier letzte Nacht geschickt. Aufnahmen aus dem Leichenschauhaus, von den beiden Russen, die gestern auf dem Highway getötet wurden.« Unter den aufmerksamen Blicken Laskers malte Ron mit seiner Maus einen roten Kreis um eine kleine weißliche Stelle aus Narbengewebe.
»Sieht aus, als hätte sich dort jemand ein Tattoo entfernen lassen«, stellte Danny fest und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Eine alte Freundin von mir hat sich mal eine Drachentätowierung über ihrem Hintern entfernen lassen. Das sah genauso aus.«
Zu einem anderen Zeitpunkt hätte Carter darüber einen Witz gerissen oder ihn zumindest nicht einfach mit einer Anekdote wie dieser davonkommen lassen. Aber nicht an diesem Morgen. »Wissen Sie, was dort stand? Das war kyrillisch.«
»Na und? Laut dem Bureau waren das Russkies.«
Ein verzweifelter Fluch entwich Carters Lippen. »Das ist nicht der Punkt. Das hier waren die kyrillischen Buchstaben A und B. Der andere Mann trug eine 0 auf seinem Unterarm.«
»Ihre Blutgruppen«, keuchte Lasker. Es war, als hätte jemand das Licht eingeschalten. »Speznas.«
»Exakt. Mit einiger Sicherheit Korsakovs Männer. Und das Bureau tut weiterhin so, als wären das ganz gewöhnliche Kriminelle gewesen.«
»Das ergibt keinen Sinn. Wieso sollten sie so etwas tun?«
»Keine Ahnung. Aber ich will verdammt sein, wenn ich es nicht herausfinde.« Carter sah ihn an, das verfinsterte Gesicht zu einer wehleidigen Grimasse verzogen. »Ich habe Luke in den Tod geschickt, Danny. Ich muss herausfinden, wieso.«
08:29 Uhr
Das Lagerhaus
Manassas, Virginia
Auf dem Bildschirm schwärmte eine größere Schar von Personen in blauen Jacken und mit grellgelbem FBI-Aufdruck auf dem Rücken in den Randbezirk von Virginia aus und huschte von Deckung zu Deckung. Ihr Zielobjekt, welches man durch die Helmkamera eines der Agenten verfolgen konnte, war ein weißes Terrassenhaus am Ende einer Sackgasse mit einem grauen Ford Excursion in der Einfahrt.
Während sich die Agenten noch in taktischer Formation mit schussbereiten AR-15 näherten, tauchte ein grauhaariger Mann in der Garagentür des Terrassenhauses auf. Er trug noch immer seinen Morgenmantel.
Sofort richteten sich alle Waffen auf ihn. »Auf den Boden! Nehmen Sie die Hände hoch! FBI!«
Ein schmales Lächeln huschte über Korsakovs Gesicht, als er die Videoübertragung abschaltete. »Wann fand die Razzia statt?«
»Vor zwanzig Minuten.«
»Nun, dann waren unsere Vermutungen korrekt, Viktor. Wie immer.«
Der Junge grinste. »Da. Sie waren gut«, gestand er widerwillig ein, »aber nachlässig. Sie waren schnell. Vielleicht fanden sie ein paar Codeschnipsel von unserem Eindringen in die Datenbank.«
»Genügt das, um das wirkliche Kennzeichen rekonstruieren zu können?«
Viktor dachte einen Moment darüber nach und fuhr sich mit den Fingern über seinen Dreitagebart, während er dabei auf den Bildschirm starrte. »Njet«, sagte er schließlich. »Sie haben gute Arbeit geleistet, aber das spielt keine Rolle.«
Gut.
»Wie lange noch, bis sich das Signal von Chambers Tracker einschaltet?«
»Neunzig Minuten.«
09:33 Uhr
West Virginia
»Was glauben Sie – wie viel Zeit bleibt uns noch?«
Sie befanden sich jetzt tief in den Bergen. Vor einigen Kilometern hatten sie ein paar Schneepflüge hinter sich gelassen – die einzigen Fahrzeuge, denen sie in den letzten dreißig Minuten begegnet waren. Harry tippte auf die Bremse, verlangsamte den Excursion etwas, um die kurvige Gebirgsstraße passieren zu können. Der Schnee verwischte den Übergang zu dem steilen Abhang an einer Seite der Straße, aber er war immer noch da.
»Schwer zu sagen«, antwortete er. »Ist schon eine Weile her, seit das Bureau das letzte Mal nach mir suchte.«
Ihr Gesichtsausdruck war unbezahlbar. »Eine Weile? Das ist schon mal vorgekommen?«
Harry schüttelte den Kopf. »Nicht so wirklich. Sommer ‘05, ausgedehntes Wiederholungstraining auf der Farm. Sechs von uns ließen sie in D.C. laufen, mit geheimen Befehlen und zwei Stunden Vorsprung vor den G-Men.«
»Sie haben zu viel Zeit mit Carter verbracht«, bemerkte sie. »Wie ist es Ihnen ergangen?«
»Zwei von uns hielten die achtundvierzig Stunden durch und absolvierten die Mission. Wie sich herausstellte, hatte Kranemeyer eine Wette über eintausend Dollar mit dem Leiter der Antiterroreinheit des FBI laufen. Er gewann.«
»Dann haben Sie es also geschafft. Wer war der andere glückliche Gewinner?«
Der Blick in seinen stahlgrauen Augen verfinsterte sich.
»Sammy Han.«
09:38 Uhr
Die Allegheny Mountains, in der Nähe von Bickle Knob
West Virginia
In dem Wald herrschte Totenstille. Die schwere Schneedecke des frühen Morgens bedeckte alles wie ein Leichentuch.
Schnee knirschte unter seinen Schneeschuhen, als der große Mann zwischen den Bäumen auftauchte und mit geübter Leichtigkeit über die Schneedecke glitt. Seine Hose und sein Parka waren in Winterdigitaltarnmuster gehalten, US-Armee-Uniform, schon einige Jahre alt. Aus ein paar Metern Entfernung betrachtet verschmolz er damit mit dem Hintergrund.
Er blieb eine Weile stehen und musterte das vor ihm liegende Gelände. Eine Bewegung am Fuße des Berghanges erregte seine Aufmerksamkeit und er nahm seine Rayban ab, unter der ein schmales, scharfgeschnittenes asiatisches Gesicht zum Vorschein kam. Er konnte kaum älter als einundvierzig sein, höchstens dreiundvierzig, aber seine Augen … seine Augen waren älter. Die Augen eines Mannes, der im Leben schon zu vieles mit angesehen hatten. Zu viel Tod.
Er hob das .308 FNH SCAR-Sturmgewehr in seinen Händen und zielte mit ihm hinunter ins Tal, dorthin, wo er die Bewegung ausgemacht hatte. Da – der Kopf eines Hirsches tauchte im Zielfernrohr der SCAR auf