Klein-Doritt. Charles Dickens
Читать онлайн книгу.werden könnte, schien beinahe unmöglich. Dagegen mußte es auf die meisten Beobachter den Eindruck machen, daß es sich zu Zorn und wildem Trotz verdüstern könne und daß es in dieser Richtung sich ändern müßte, wenn es sich überhaupt veränderte. Es war nicht dazu abgerichtet und zugestutzt, irgendeinen bloß zeremoniösen Ausdruck anzunehmen. Obgleich kein offnes Gesicht, war es doch auch keine Maske. Ich bin ich selbst und vertraue nur auf mich. Eure Meinung gilt mir gleich; ich kümmere mich nicht um euch und höre und sehe mit Verachtung an, was ihr redet und tut – das sprach sich offen in diesem Gesicht aus. Das sagten diese stolzen Augen, diese emporgezogenen Nasenflügel, dieser schöne, aber zusammengepreßte und sogar grausame Mund. Selbst wenn man zwei von diesen Quellen des Ausdrucks bedeckt haben würde, hätte der dritte allein noch dasselbe gesagt. Deckte man sie alle zu, so würde selbst die bloße Haltung des Kopfes eine unbeugsame Natur verraten haben.
Pet war zu ihr hinaufgegangen (das Fräulein war der Gegenstand der Bemerkungen für Pets Familie und Mr. Clennam gewesen, die allein im Saal zurückgeblieben) und stand nun neben ihr.
»Erwarten Sie hier jemanden, Miß Wade?« sagte Pet stotternd, als diese sich schon bei den ersten Worten nach ihr umwandte.
»Ich? Nein!«
»Vater schickt nach der Post. Werden Sie ihm das Vergnügen machen, daß er fragen lassen darf, ob keine Briefe für Sie angekommen?«
»Ich danke, aber ich weiß, daß keine solchen hier sein können.«
»Wir fürchten«, sagte Pet schüchtern und halb zärtlich, indem sie sich neben sie setzte, »daß Sie sich sehr verlassen fühlen werden, wenn wir alle fort sind.«
»Wirklich?«
»Nicht etwas, sagte Pet entschuldigend, da sie ihre Blicke verlegen gemacht, »nicht etwa, daß ich damit sagen wollte, wir seien eine Gesellschaft für Sie, oder daß wir glaubten, Sie unterhalten zu können, oder daß wir gar meinten, Sie wünschten das.«
»Ich hatte auch nicht die Absicht gehabt, einen solchen Wunsch zu bekunden.«
»Nein. Natürlich nicht. Aber – kurz«, sagte Pet, schüchtern ihre Hand berührend, die teilnahmlos zwischen ihnen auf dem Sofa lag, »wollen Sie dem Vater nicht gestatten, Ihnen irgendeinen kleinen Beistand oder Dienst zu leisten? Es würde ihn ungemein freuen.«
»Wirklich ungemein freuen«, sagte Mr. Meagles, mit seiner Frau und Mr. Clennam näher tretend. »Alles, mit Ausnahme des Französischsprechens, wird mir ein Vergnügen sein.«
»Ich bin Ihnen sehr verbunden«, entgegnete sie, »aber meine Arrangements sind bereits getroffen, und ich ziehe es vor, meinen eignen Weg und auf meine Weise zu gehen.«
»So?« sagte Mr. Meagles zu sich selbst und sah sie mit einem verdutzten Blick an. »Nun! Auch darin liegt Charakter.«
»Ich bin nicht an die Gesellschaft junger Damen gewöhnt und fürchte, ich möchte nicht imstande sein, Ihnen meine Verehrung so gut wie andere an den Tag legen zu können. Angenehme Reise!«
Sie hätte zweifelsohne ihre Hand nicht hingereicht, wenn Mr. Meagles nicht die seine so gerade vor sie hingehalten, daß sie nicht ausweichen konnte. Sie gab ihm die ihre, und sie lag so gleichgültig darin wie auf dem Sofa.
»Leben Sie wohl!« sagte Mr. Meagles. »Das ist das letzte Lebewohl auf der Liste; denn Mutter und ich haben gerade von Mr. Clennam Abschied genommen, und er wartet nur, um Pet Lebewohl zu sagen. Adieu. Wir sehen uns vielleicht nie wieder.«
»Auf unsrem Wege durchs Leben werden wir den Leuten begegnen, die uns zu begegnen voraus bestimmt sind, sie mögen kommen, woher sie wollen und auf welchem Wege sie wollen«, lautete die gefaßte Antwort, »und was uns bestimmt ist, daß wir ihnen tun sollen, und was ihnen bestimmt ist, daß sie uns tun sollen, das wird alles sicher geschehen.«
Es lag etwas in dem Ton dieser Worte, was Pets Ohr unangenehm berührte. Sie schienen sagen zu wollen, daß, was geschehen müsse, notwendig schlimm sei, und sie sagte unwillkürlich flüsternd: »O Vater!« und hing sich in ihrer kindisch verzogenen Weise fester an ihn. Der Sprecherin entging dies nicht.
»Ihre hübsche Tochter«, sagte sie, »erschrickt bei dem Gedanken. Aber«, fuhr sie fort und sah sie dabei lebhaft an, »Sie dürfen überzeugt sein, daß bereits Männer und Frauen unterwegs sind, die mit Ihnen zu tun haben werden und denen Sie nicht ausweichen können. Sie dürfen sich darauf verlassen, sie werden hundert, tausend Meilen übers Meer kommen; sie sind Ihnen vielleicht schon ganz nahe; sie kommen vielleicht, ohne daß Sie etwas davon wissen oder es zu verhindern etwas tun können, aus dem schlechtesten Kehricht dieser Stadt.«
Mit dem kältesten Lebewohl und mit einem gewissen überdrüssigen Ausdruck, der ihrer Schönheit, obgleich sie kaum in voller Blüte stand, einen Schein von Abgelebtheit gab, verließ sie das Zimmer.
Sie mußte über viele Treppen und Gänge gehen, wenn sie von diesem Teil des geräumigen Hauses nach dem Zimmer kommen wollte, das sie sich genommen. Als sie ihre Wanderung beinahe beendet hatte und durch den Gang ging, in dem sich ihr Zimmer befand, hörte sie ein ungestümes Murren und Seufzen. Eine Tür stand offen, und sie sah darin die Gesellschafterin des Mädchens, das sie soeben verlassen, die Zofe mit dem seltsamen Namen.
Sie blieb stehen, um sich die Zofe zu betrachten. Ein finstres, leidenschaftliches Mädchen! Ihr reiches schwarzes Haar hing über das Gesicht herein; dieses war gerötet und glühend, und während sie schluchzte und tobte, zupfte sie mit schonungsloser Hand an den Lippen.
»Selbstsüchtige rohe Menschen!« sagte das Mädchen seufzend und zuweilen tief aufatmend. »Kümmern sich nicht darum, was aus mir wird! Lassen mich hier hungern und dürsten und lassen mich elend verschmachten, ohne nach mir zu fragen! Bestien! Teufel! Scheusale!«
»Mein armes Mädchen, was ist Ihnen?«
Sie sah plötzlich mit geröteten Augen auf und ließ die Hände, die eben noch den durch große rote Blutflecken entstellten Hals zerfleischen wollten, sinken. »Das geht Sie nichts an, wie mir ist. Es geht niemanden etwas an.«
»O doch! Ihr Anblick schmerzt mich.«
»Sie haben keinen Schmerz«, sagte das Mädchen. »Sie sind vergnügt. Ja, Sie sind darüber vergnügt. Nur zweimal war ich drüben in der Quarantäne in diesem Zustand; und beide Male fanden Sie mich. Ich fürchte mich vor Ihnen.«
»Fürchten, und vor mir?«
»Ja. Sie erscheinen mir immer wie meine Wut, meine Bosheit, meine – was weiß ich. Aber ich werde mißhandelt, ich werde mißhandelt, ich werde mißhandelt.« Hier fing das Schluchzen und Weinen und das Zerfleischen mit der Hand, das seit der ersten Überraschung aufgehört hatte, wieder an.
Die Fremde betrachtete sie mit einem seltsam aufmerksamen Lächeln. Es war erstaunlich, zu sehen, welcher Kampf im Innern des Mädchens vorging und wie sie sich körperlich marterte, als ob sie von Dämonen zerrissen würde.
»Ich bin zwei oder drei Jahre jünger als sie, und doch muß ich alles für sie tun, als ob ich älter wäre, und sie ist es, die immer geliebkost und liebes Kind genannt wird! Ich verabscheue ihren Namen. Ich hasse sie. Sie machen eine Närrin aus ihr, sie verzärteln sie. Sie denkt nur an sich, denkt nicht mehr an mich, als wenn ich ein Stock oder Stein wäre.« So ging es fort.
»Sie müssen Geduld haben.«
»Ich will keine Geduld haben!«
»Wenn sie sich viel um sich kümmern und wenig oder gar nicht um Sie, so müssen Sie nicht darauf achten.«
»Ich will aber darauf achten.«
»St! Reden Sie klüger. Sie vergessen Ihre abhängige Stellung.«
»Was kümmere ich mich darum! Ich laufe fort. Ich will irgendein Unheil anrichten! Ich kann es nicht länger ertragen; ich will es nicht länger ertragen; ich würde sterben, wenn ich's zu ertragen suchte!«
Die Fremde stand, die Hand auf die Brust gelegt, an der Tür und betrachtete das Mädchen wie ein Mensch, der einen kranken Körperteil hat und neugierig an der Sektion