Klein-Doritt. Charles Dickens

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Klein-Doritt - Charles Dickens


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je gesehen, daß sie in irgendeiner Sache ein nützliches Beispiel gegeben?«

      »Ich bin ein gutes Stück älter als mein Freund hier«, sagte Mr. Meagles, »und ich will diese Frage beantworten: Niemals!«

      »Aber wir alle drei haben, wie ich erwarte«, sagte der Erfinder, »eine große Menge von Fällen gekannt, in denen sie fest entschlossen war, Meile um Meile und Jahr um Jahr hinter uns andern zurückzubleiben, und in denen man sie bei der Ausübung längst außer Brauch gesetzter Dinge beharren sah, selbst nachdem das Bessere bekannt und allgemein angenommen war?«

      Sie stimmten alle mit dieser Ansicht überein.

      »Nun gut«, sagte Doyce mit einem Seufzer, »wie ich weiß, was mit einem gewissen Metall bei einer bestimmten Temperatur und mit einem gewissen Körper bei einem bestimmten Druck vorgeht, so muß ich wissen (wenn ich einfach darüber nachdenken will), wie diese großen Lords und Gentlemen eine Sache, wie die meinige, behandeln werden. Ich habe kein Recht, überrascht zu sein – sobald ich einen Kopf auf den Schultern trage und ein Gedächtnis darin habe –, daß ich mit allen meinen Vorgängern in eine Linie gestellt werde. Ich hätte die Sache einfach unterlassen sollen. Ich war, glaube ich, genugsam gewarnt.«

      Damit steckte er sein Brillenfutteral ein und sagte zu Arthur: »Wenn ich mich nicht beklage, Mr. Clennam, so kann ich doch Dankbarkeit fühlen; und ich versichere Sie, daß ich solche für unsern gemeinsamen Freund fühle. Oftmals und auf mancherlei Weise hat er mir den Rücken gedeckt.«

      »Dummes Zeug, Unsinn!« sagte Mr. Meagles.

      Arthur mußte während der darauffolgenden Pause beständig Daniel Doyce ansehen.

      Obgleich es offenbar im Wesen seines Charakters lag und die Rücksicht auf seine Sache ihm gebot, sich unnützen Murrens zu enthalten, hatte ihn doch sein langes Mühen ersichtlich älter, ernster und ärmer gemacht. Er mußte unwillkürlich immer daran denken, wie segensreich es für diesen Mann gewesen wäre, wenn er sich an jenen Männern, die so freundlich sind, sich mit den Angelegenheiten der Nation zu befassen, eine Lehre genommen und gelernt hätte: »wie man es nicht machen müsse«.

      Mr. Meagles war noch ungefähr fünf Minuten lang heiß und kleinmütig, dann begann er sich abzukühlen und aufzuklären.

      »Nun, nun!« sagte er, »wir werden die Sache nicht besser machen, wenn wir auch zornig sind. Wohin beabsichtigen Sie zu gehen, Dan?«

      »Ich gehe nach der Fabrik zurück«, sagte Dan.

      »Nun gut, wir gehen alle nach der Fabrik zurück oder wenigstens in der Richtung«, versetzte Mr. Meagles freundlich. »Mr. Clennam wird nicht erschreckt werden, wenn er erfährt, daß sie im ›Hof zum blutenden Herzen‹ ist.«

      »Im ›Hof zum blutenden Herzen?‹« fragte Clennam. »Ich muß gerade dorthin.«

      »Um so besser«, rief Mr. Meagles.

      Während sie so des Weges gingen, dachte gewiß einer von ihnen, und vielleicht mehr als einer, daß der »Hof zum blutenden Herzen« kein unpassender Bestimmungsort für einen Mann sei, der in offiziellem Verkehr mit Mylords und den Barnacles steht, – und hatte vielleicht sogar eine Ahnung, daß auch Britannien an einem traurigen Tage, wenn es das Circumlocution Office mit Arbeit überlüde, sich nach einer Wohnung im »Hof zum blutenden Herzen« umsehen müsse.

      Ein düsterer Spätherbstabend senkte sich über die Saone herab. Der Strom spiegelte wie ein schmutziger Spiegel an einem dunkeln Platz die Wolken mit mattem Glanz wider. Die niederen Ufer hingen rechts und links über den Fluß herein, als ob sie halb neugierig wären, halb sich fürchteten, ihr dunkles Bild im Schatten zu sehen. Die flache Umgebung von Chalons, eine große traurige Ebene, die nur hier und dort von einer Reihe Pappelbäume unterbrochen wurde, stemmte sich gegen den zornigen Sonnenuntergang. An den Ufern der Saone war es feucht, drückend, einsam; und die Schatten der Nacht verdunkelten sich mehr und mehr.

      Ein Mann, der langsam auf dem Wege nach Chalons einherging, war das einzige sichtbare Wesen in der Landschaft. So einsam und von aller Welt gemieden mochte Kain ausgesehen haben. Mit einem alten Ranzen aus Schaffell auf dem Rücken und einem rauhen, geschälten, im Walde geschnittenen Stock in der Hand, staubig, mit wunden Füßen, die Schuhe und Gamaschen ausgetreten, Haar und Bart ungekämmt; den Mantel, den er auf der Schulter hängen hatte, und die Kleider, die er trug, durchnäßt, schmerzvoll und mühsam einherhinkend, machte er den Eindruck, als ob die Wolken vor ihm flöhen, als ob das Ächzen des Windes und das Schauern des Grases gegen ihn gerichtet wären, als ob das dumpfe, geheimnisvolle Rauschen des Wassers gegen ihn murrte, als ob die fiebernde Herbstnacht durch ihn beunruhigt würde. Er blickte finster und doch zugleich scheu bald dahin, bald dorthin. Bisweilen blieb er stehen, drehte sich um und sah nach allen Seiten. Dann hinkte er mühselig weiter und murmelte vor sich hin:

      »Zum Teufel mit dieser Ebene, die kein Ende hat! Zum Teufel mit diesen Steinen, die wie Messer in die Sohle schneiden! Zum Teufel mit dieser unheimlichen Finsternis, die mich frostig einhüllt! Ich hasse euch!«

      Und er würde mit dem scheelen Blick, den er um sich warf, seinen Groll auf alles geschleudert haben, wenn es möglich gewesen wäre. Er arbeitete sich etwas weiter und blieb dann, in die Ferne blickend, wieder stehen.

      »Ich bin hungrig, durstig, müde. Und ihr Schwächlinge dort unten, wo die Lichter brennen, eßt und trinkt und wärmt euch am Kamin! Ich wünschte, ich dürfte eure Stadt plündern, ich wollt' euch dafür zahlen lassen, Kinderchen!«

      Aber die Zähne, die er der Stadt wies, und die Hand, die er gegen die Stadt ballte, brachten die Stadt nicht näher, und der Mann war noch hungriger und durstiger und müder, als seine Füße auf ihrem scharfen Pflaster standen und er sich rings umsah.

      Da war das Hotel mit seiner Einfahrt und seinem üppigen Küchengeruch; dort das Kaffeehaus mit seinen glänzenden Fenstern und dem Geklapper des Dominospiels; hier der Färber mit seinen Streifen roten Tuchs an den Türpfosten; dort der Silberschmied mit seinen Ohrringen und seinem Altarschmuck; hier der Tabakhändler, aus dessen Laden eine lebhafte Schar Soldaten mit der Pfeife im Mund herauskam, dort endlich die schlechten Gerüche der Stadt, der Regen, der Unrat in den Rinnsteinen und die matten Lampen, die über die Straße hingen; die hohe Reisekutsche, ihr Berg von Gepäck und ihre sechs grauen Pferde mit den aufgebundenen Schwänzen, die von dem Wagenbureau auslaufen sollte. Aber kein kleines Wirtshaus für einen geldverlegenen Wanderer war zu sehen, und er mußte deshalb abseits gehen, wo die Kohlblätter um Stadtbrunnen aufgehäuft lagen, aus dem die Frauen noch immer Schöpfwasser holten. Dort in einer Hintergasse fand er eine Schenke: den »Tagesanbruch«. Die verhängten Fenster umwölkten den »Tagesanbruch«, aber er schien hell und warm zu sein und versprach in leserlicher Inschrift mit passendem bildlichen Zierat, der in Queues und Kugeln bestand, daß man im »Tagesanbruch« Billard spielen könne; daß man ferner Speisen, Getränke und Wohnung finde, man möge zu Pferd oder zu Fuß kommen, und daß man gute Weine, Liköre und Branntwein antreffe. Der Mann drückte die Türklinke des »Tagesanbruchs« und hinkte hinein.

      Er griff an seinen verwaschenen, schlottrigen Hut, als er in das Zimmer trat, in dem einige Männer saßen. Zwei von ihnen spielten an einem der kleinen Tische Domino; drei bis vier saßen um den Ofen und plauderten, während sie rauchten; der Billardtisch stand in diesem Augenblick verlassen; die Wirtin vom »Tagesanbruch« saß, mit Nähen beschäftigt, hinter ihrem kleinen Schanktisch unter ihren von Tabakwolken umgebenen Sirupflaschen, Kuchenkörben und der bleiernen Abtropfstellage für die Gläser.

      Er ging auf einen unbesetzten kleinen Tisch in einer Ecke des Zimmers hinter dem Ofen zu und legte seinen Ranzen und seinen Mantel auf den Boden. Als er sich wieder aus der gebeugten Stellung erhob und aufsah, stand die Wirtin neben ihm.

      »Kann man hier übernachten, Madame?«

      »Gewiß«, antwortete die Wirtin mit hoher, singender, heiterer Stimme.

      »Gut. Man kann wohl auch essen – soupieren – oder wie Sie das nennen wollen?«

      »Gewiß!« sagte die Wirtin wie zuvor.

      »So


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