Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays. Odo Marquard

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Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays - Odo Marquard


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– genauer gesagt – an der Vorstellung der spätweltgeschichtlichen Aufklärung als Mythen-Striptease. Diese Vorstellung – sagte ich – ist selber ein Mythos; so ist es fällig, dazu einen Gegenmythos zu finden. Sie alle kennen Andersens sozialpsychologisches Märchen von »des Kaisers neuen Kleidern« und erinnern sich: Da hatten clevere Manager der Branche zur Produktion und zum Vertrieb jener Kleider, welche Leute machen, der herrschenden Klasse die Nullgarderobe aufgeschwatzt; die Sache funktionierte, bis ein zeitkritischer Dreikäsehoch ausrief: Die haben ja nichts an! (Das war zu jener Zeit, als das Kritisieren noch geholfen hat.) Beim jetzt, in unserer Zeit, gesuchten Gegenmythos – Überschrift etwa: »Der Striptease, der keiner war« – muss es umgekehrt sein: da ist die mythische Nullgarderobe gerade das ausdrücklich proklamierte Ziel, da strebt die wissenschaftliche und emanzipatorische Avantgarde nach mythischer Nudität und glaubt, sie zu haben; und hier – scheint mir – funktioniert die Sache vielleicht ebenfalls nur so lange, bis ein phänomenologisch-hermeneutischer Dreikäsehoch auftritt und per naivitatem institutam et per doctam ignorantiam etwa ausruft: Sie da, der Herr aus dem späten Wiener Kreis, Sie haben ja immer noch Mythen an! Was dem Betreffenden sicher gleichfalls sehr peinlich ist, selbst wenn er – denkt man z. B. an Ernst Topitsch – ein echtes Erzähltalent ist: welch pralle Mythen enthält doch sein »Naturgeschichte der Illusion« unterbetiteltes Buch;12 und auch das verbindet ihn mit den alten Mythologen, dass er immer wieder dasselbe erzählt. Ich räume ein: ein Philosoph, der jenen vermeintlichen Striptease als tatsächlichen Mummenschanz durchschaut, muss schon über sensible Methoden verfügen; so etwas Halbes wie etwa die Semi-Otik reicht da keineswegs aus, da muss schon jemand holotisch ein Hermeneutiker sein, um so zu intervenieren. Aber recht – scheint mir – hätte er ja wohl: Wir können die Geschichten – die Mythen – nicht loswerden; wer es trotzdem glaubt, betrügt sich selber. Menschen sind mythenpflichtig; ein mythisch nacktes Leben ohne Geschichten ist nicht möglich. Die Mythen abzuschaffen: das ist aussichtslos.

      2. Monomythie und Polymythie. Durch diesen einleitenden Hinweis wollte ich – dem ersten Anschein entgegen – nicht dartun, dass die Aufklärung arbeitslos wird, dass das Pensum der Mythenkritik entfällt. Denn: wenn es aussichtslos ist, die Mythen abzuschaffen, so folgt daraus nicht, dass es am Mythos nichts mehr zu kritisieren gibt; ganz im Gegenteil: erst jetzt bekommt das Aufklärungspensum der Mythenkritik präzise Konturen. Nicht wahr: Wer angesichts von avancierten Knollenblätterpilzen die Forderung erhebt, man solle das Essen gänzlich bleibenlassen, der geht – scheint mir – einfach zu weit und wird nichts ausrichten; ein Ideologiekritiker könnte entlarvungsbeflissen schließen, so einer habe Interesse am Verhungern der anderen. Die vernünftige Maßnahme ist hierbei doch die, die längst erfolgreich ergriffen wurde: eine genaue Unterscheidung des Essbaren und Giftigen. Just so beim Mythos: Angesichts der Mythenpflichtigkeit der Menschen wird die Mythenkritik sinnvoll und vernünftig genau dann, wenn man die Mythen nicht mehr pauschal abwehrt, sondern wenn man bekömmliche und schädliche Mythensorten zu unterscheiden versucht und gegen die schädlichen antritt.


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