Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays. Odo Marquard
Читать онлайн книгу.Die durch Woanderssein ist jedermann geläufig, der museal beschäftigt ist oder sonstwie verreist. Aber man kann – und das ist keine Sache einer bestimmten philosophischen Schule oder Richtung – man kann auch nicht da sein, indem man ständig noch nicht da ist; und das kann man hermeneutisch: weil das Gespräch noch nicht zu Ende ist; oder dialektisch: weil das Gegenteil noch nicht eingetreten ist; oder analytisch: weil die Behauptung immer noch zu immun auftritt; oder anthropologisch: weil man unbedingt erst noch einmal zu den Bororos muss; oder historisch: weil zuvor noch alles darauf ankommt, die Gnosis zureichender zu erforschen; oder geschichtsphilosophisch: weil man noch auf die Basis oder noch auf den Überbau warten muss oder auf den, der absolut feststellt, auf wen man warten muss; oder transzendental: weil noch nicht alle Möglichkeitsbedingungen beisammen sind oder schon zu viele; oder ästhetisch: weil der Rhythmus noch nicht stimmt oder nur erst der Rhythmus; oder rational rekonstruierend: weil der entscheidende Prädikator immer noch nicht konsensual genug eingeführt ist; oder begriffsgeschichtlich: weil man erst bis I informiert ist; oder direkt skeptisch: indem man überflüssig bleibt und schläft, wenn man nicht gerade nützlich nebentätig ist – man sollte sich hüten vor nebentätigen Skeptikern – und so fort: am besten – für eine solche Absenz – ist es gerade, alle Philosophien zu haben oder jedenfalls möglichst viele, um immer gerade die andere zu haben. Die philosophische Kommunikation ist hier Einsamkeit mit anderen Mitteln. Die institutionelle Konsequenz ist die Organisation von Anwesenheitsverhinderungen: Auch hier ist es gut, wenn die Philosophie etwas Zentrales wird, hier ist ein Zentrum nützlich, weil es – wo Fakultäten oder Fachbereiche existieren – eine zweite Präsenzverpflichtung begründet, die mit der ersten aussichtsreich kollidiert; wer da nicht für Philosophie und nicht für die erste Philosophie zuständig ist, sondern nur für die zweite, die andere, die skeptische, ist im Zentrum wegen des Fachbereichs und im Fachbereich wegen des Zentrums verhindert und kann gerade dadurch – das ist die Evidenz des dritten Ortes – arbeiten in seiner Außenstelle für Exzentrik: zu Hause, als ein emeritus praecox, ein Sisyphus, der dort seinen Stein, ehe er ihn rollt, allererst basteln muss, und zwar mit Wörtern und aus nichts. Aber aus nichts wird nichts; und so ist, was so einer treibt, allemal die Verwandlung einer gespannten Erwartung in nichts: bekanntlich ist das Kants Definition des Lachens, und so ist diese skeptische Philosophie – tristesse oblige – vielleicht das Heitere und womöglich – im Zeitalter der traurigen Wissenschaft – das letzte Exil der Heiterkeit, ein trauriges: denn wer so lacht, hat nichts zu lachen.
Wo – und dies ist jetzt meine Nachbemerkung – wo die Philosophie kompetenzunsicher, wo sie zunehmend inkompetent und kompetenznostalgisch wird: da will sie schließlich entweder alles sein oder nichts. Beide Möglichkeiten – die weitaus mehr identisch miteinander sind, als ihnen lieb sein kann – hatte ich anvisiert; sie sind Kompensationsarrangements unterm Eindruck von Kompetenzreduktionen bei der Philosophie: sie sind Inkompetenzkompensationen. Rechtfertigt das die Rede von einer Kompetenz, einer Inkompetenzkompensationskompetenz der Philosophie? Man könnte an jenen begriffsgeschichtlich ausgezeichneten Gebrauch des Wortes Kompetenz denken, der sich im Bezirk der kirchlichen Rechte findet: dort ist die Kompetenz der terminus technicus für jene Klerikeralimentation, die zur Führung eines standesgemäßen Klerikerlebens erforderlich und darum unpfändbar ist. Denn diese Bedeutung – bei der ein durch die Schule des Verdachts bei Marx und Nietzsche und Freud und Heidegger und Adorno Gegangener mit gelehrigem Argwohn sich fragt, warum eigentlich unsere gegenwärtigen Kompetenztheoretiker von ihr in ihren wissenschaftlichen Performanzen keine Notiz nehmen – diese Bedeutung von Kompetenz kann akzentuiert werden entweder in Richtung auf die Bedingungen der Möglichkeit von Priesterschaft, von potestas clavium, oder in Richtung auf die Minimalapanage desjenigen, der nicht am aktiven Leben teilnimmt: und das sind ja die beiden von mir skizzierten Möglichkeiten, durch die die Philosophie ihre Inkompetenz kompensiert: absolute Schlüsselgewalt oder vita postuma. Freilich: Kompetenz lässt an Leistung denken; doch was ich beschrieb, waren Fehlleistungen. Die Philosophie: vielleicht hat sie – ich lasse das offen und sage es mit Vorbehalt – heute keine Chance, keine Fehlleistung zu sein; vielleicht hat sie nur die Chance, dies sich einzugestehen. Sie hätte dann keine Vollmacht und wäre nicht sie selbst, sondern bestenfalls täte sie etwas statt dessen. Wo sie das in Rechnung stellt: vielleicht würde sie da menschlich, denn Menschen sind ja die, die etwas statt dessen tun.
Ich hatte hier – auf Geheiß – das Referat über Kompetenz und Inkompetenz der Philosophie zu halten; statt dessen habe ich das vorgebracht, was ich statt dessen vorgebracht habe: ein Antireferat. Malraux hat in seinen Antimemoiren die Frage aufgeworfen, ob Memoiren ähnlich sein müssen in einer Zeit, in welcher nicht einmal Portraits mehr Ähnlichkeit wollen. Ich dehne – indem ich im Zeitalter der Totaltransparenz an das Grundrecht auf Ineffabilität erinnere – diese Frage aus nicht auf Referate schlechthin, aber auf dieses Referat2, bei dem ich im Übrigen eigens betonen muss, dass ich es jetzt beende, damit Sie nicht auf die fürchterliche Idee verfallen, ich würde es aus irgendwelchen Prinzipien ewiger Wiederkehr des Gleichen jetzt sofort noch einmal halten, wenn ich folgendermaßen schließe: Bei einem chinesischen Henkerwettstreit – so wird erzählt – geriet der zweite Finalist in die Verlegenheit, eine schier unüberbietbar präzise Enthauptung durch seinen Konkurrenten, der vor ihm dran war, überbieten zu müssen. Es herrschte Spannung. Mit scharfer Klinge führte er seinen Streich. Jedoch der Kopf des zu Enthauptenden fiel nicht, und der also scheinbar noch nicht enthauptete Delinquent blickte den Henker erstaunt und fragend an. Drauf dieser zu ihm: Nicken Sie mal. Mich – sagte ich – interessiert, was dieser Kopf denkt, bevor er nickt; denn das – meinte ich – müsste doch Ähnlichkeit haben mit Gedanken der Philosophie über sich selber. Ich vermute, dass sich Ihnen in Bezug auf mich jetzt seit mindestens fünfundvierzig Minuten die Frage aufdrängt: Wann endlich nickt er?
Endnoten
Alle philosophieträchtigen Naturwissenschaftleranekdoten der Gegenwart neigen dazu, schließlich zu Niels-Bohr-Anekdoten zu werden; hier ist die folgende gemeint: Niels Bohr erhält Besuch auf seiner Skihütte, über deren Tür ein Hufeisen angebracht ist. Der Besucher weist auf das Hufeisen und fragt Bohr: »Sie, als Naturwissenschaftler, glauben daran?« Bohr: »Selbstverständlich glaube ich nicht daran; aber ich habe mir versichern lassen, dass Hufeisen auch dann wirken, wenn man nicht an sie glaubt.«
Das ja, direkt genommen, gegen die Fachräson verstößt, indem es die Philosophie als etwas vorstellt, zu dem – und zwar sowohl zum Dogmatismus der Kritik wie zum Skeptizismus der zur Position gemachten Nichtigkeit – man gegenwärtig skeptisch sich verhalten sollte. Aber – zumal es sich ja auch lesen lässt als Dialektik ihrer Fehlleistungen, die eine Analytik ihrer Leistungen provozieren will – indirekt gilt schließlich das Gegenteil; denn welch unerschütterliche Lebenskraft beweist doch die Philosophie als Fach schon allein dadurch, dass sie sich dies leisten kann: bei einem repräsentativen Anlass justament den (was seine Haupttätigkeit betrifft) notorischen Defätisten der Innung als Mutmacher zu engagieren.
Lob des Polytheismus
Über Monomythie und Polymythie
Das Bewusstsein der hohen Ehre, die mir widerfährt durch die Einladung, in Ihrem Mythenkolloquium zu sprechen, verbindet sich bei mir mit einer heftigen Furcht und einer zaghaften Hoffnung. Ich fürchte, Sie haben mich eingeladen, weil Sie bei mir mythologiephilosophische Kompetenz vermuten. Das wäre ein glatter Irrtum: ich habe keine. Wohl aber habe ich etwas anderes, nämlich die eben erwähnte zaghafte Hoffnung, dass Sie mich ganz im Gegenteil – um diese meine mythologiephilosophische Inkompetenz mehr als mir lieb sein kann wissend – aus zwei sehr anderen Gründen eingeladen haben, entweder aus dem einen oder aus dem anderen oder sogar aus beiden. Der eine Grund wäre dieser: Sie lassen mich nicht nur trotz, sondern gerade wegen meiner mythologiephilosophischen Inkompetenz sprechen: weil man hier in diesem Kolloquium – sagen wir einmal: aus Paritätsgründen – einen Nichtsachverständigenvertreter zu Wort kommen lassen will mit einer paradigmatisch inkompetenten Äußerung; nur einen zwar (schließlich haben alle Paritätsregelungen einmal klein angefangen), aber immerhin wenigstens einen; und in diesem