Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays. Odo Marquard

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Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays - Odo Marquard


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– zum Ausgang des Mittelalters – seiner heilsgeschichtlichen Macht das Image einer gegenweltlichen Willkürherrschaft gab. Wo dann diese – nominalistisch – von der Welt auch noch das sacrificium essentiae und vom Menschen auch noch das sacrificium intellectus verlangte, trieb dies Mensch und Welt in die Emanzipation: Der Kopf optiert fürs Profane, wenn dem Menschen theologisch zugemutet wird, vor Gott auch den Kopf abzunehmen; und wo die Heilsgeschichte gegenweltlich wird, muss sich – schon aus Notwehr – die Welt gegengeschichtlich formieren: die Welt wird so – indirekt durch den Monotheismus selber – zur Geschichtslosigkeit18 gezwungen. Sie formiert sich neuzeitlich durch Absage auch noch an die letzte, die Heilsgeschichte, und also antigeschichtlich: als exakte Wissenschaftswelt und als System der Bedürfnisse; sie versachlicht sich zur Welt der bloßen Sachen. Die Geschichten werden generell verdächtigt: die Mythen als Aberglaube, die Traditionen als Vorurteile, die Historien als Vehikel des Ablenkungsgeistes der bloßen Bildung. Das Ende des Polytheismus, der Monotheismus, entmythologisiert – im Effekt – die Welt zur Geschichtslosigkeit.

      3. Das Unbehagen am Monomythos. Aber die Menschen sind mythenpflichtig: Wenn das – wie ich eingangs sagte – gilt, ist diese Geschichtslosigkeit der modernen Sachlichkeitswelt kein Gewinn, sondern ein Verlust, und zwar einer, der nicht ausgehalten und nicht durchgehalten werden kann. Darum hat die moderne Welt die Mythen und Geschichten nicht überwunden, sondern sie hat faktisch nur ein Geschichtsdefizit erzeugt: eine Leerstelle, eine Vakanz.

      In diese vakante Stelle tritt jetzt – scheinbar unwiderstehlich – der nachmonotheistische Monomythos ein: die durch die Geschichtsphilosophie zu »der« Geschichte im Singular ausgerufene revolutionäre Emanzipationsgeschichte der Menschheit (sie mag nun per Utopie als Kurzgeschichte traktiert werden oder per Dialektik mythische Umständlichkeit gewinnen). Das ist – nachdem Gott sich auf dem Weg über seine Einzigkeit aus der Welt schließlich in sein Ende zurückzog – die Fortsetzung der Heilsgeschichte unter Verwendung halb anderer Mittel: Dieser Mythenbeendigungsmythos bleibt – wie die Heilsgeschichte: nicht als deren Säkularisation, sondern als das Misslingen ihrer Säkularisation – die Alleingeschichte der Ermächtigung einer Alleinmacht zur Erlösung der Menschheit. Zugleich aber ist dieser Monomythos ›Emanzipationsgeschichte‹ von der christlichen Heilsgeschichte durch das Ende des Monotheismus getrennt als ihre profane Kopie: er ist also historisch ganz spät und ein moderner Tatbestand; er gehört nicht zur alten, sondern zur ganz neuen Mythologie.


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