Dombey und Sohn. Charles Dickens
Читать онлайн книгу.Ruhe und Klarheit einer Person weg, die in einer Tretmühle arbeitete. Nachdem das geschehen war, wurde Miß Pankey fortgetragen, um gewaschen zu werden, und an Master Bitherstone nahm man etwas anderes mit Salzwasser vor, aus dem er stets sehr blau und niedergeschlagen zurückkehrte. Paul und Florence gingen inzwischen mit Wickham, die unaufhörlich in Tränen zerfloß, nach dem Gestade, und um die Mittagsstunde hielt Mrs. Pipchin abermals bei einer Vorlesung die Oberaufsicht. Es gehörte mit zu Mrs. Pipchins System, den kindlichen Geist sich nicht wie eine junge Blume entwickeln und ausbreiten zu lassen, sondern ihn mit Gewalt gleich einer Auster zu öffnen; denn die Moral solcher Vorlesungen trug gewöhnlich einen ungestümen und einschüchternden Charakter: der Held – ein böser Knabe – wurde in Mitte der Katastrophe selten durch etwas Geringeres als durch einen Löwen oder Bären abgetan.
So war das Leben bei Mrs. Pipchin. Am Sonnabend kam Mr. Dombey herunter – eine Gelegenheit, bei der Florence und Paul zu ihm nach seinem Hotel kommen durften und Tee erhielten. Auch den ganzen Sonntag blieben sie bei dem Vater und fuhren gewöhnlich vor dem Mittagessen mit ihm aus. Bei solchen Anlässen schien Mr. Dombey, gleich Falstaffs Feinden, sich sozusagen zu »multiplizieren« und aus einem einzelnen steifleinwandenen Menschen ein ganzes Dutzend zu werden. Sonntagabend war der trübseligste Abend in der Woche; denn zu solchen Zeiten schien Mrs. Pipchin es darauf abgesehen zu haben, besonders widerwärtig zu sein. Miß Pankey wurde in der Regel von einer Tante zu Rottendean in tiefer Betrübnis zurückgebracht, und Master Bitherstone, dessen Verwandte insgesamt in Indien waren, und der während der Gebete in aufrechter Haltung, den Kopf gegen die Zimmerwand gelehnt und ohne eine Hand oder einen Fuß zu rühren, dasitzen mußte, fühlte sich dabei in seinem jugendlichen Gemüt so niedergeschlagen, daß er eines Sonntags abends Florence fragte, ob sie ihm für den Rückweg nach Bengalen kein Mittel angeben könne.
Aber Mrs. Pipchin stand in dem Rufe, daß sie die Kinder systematisch zu behandeln wisse, und ohne Zweifel war das auch der Fall. Die wilden kamen zuverlässig zahm genug nach Haus, nachdem sie sich einige Monate unter ihrem wirtlichen Dache aufgehalten hatten. Auch sagte man sich allgemein, es machte Mrs. Pipchin große Ehre, daß sie, nachdem ihrem Mann durch die peruanischen Minen das Herz gebrochen war, sich dieser Lebensaufgabe gewidmet, ihre Gefühle zum Opfer gebracht und fortwährend gegen die Mühen ihrer Stellung so entschlossen standgehalten hatte.
Neben dieser exemplarischen alten Dame pflegte nun Paul in der Regel lange Zeit in seinem kleinen Armstuhl zu sitzen und ins Feuer zu schauen. Er schien nie zu wissen, was Müdigkeit war, so oft er einen festen Blick auf Mrs. Pipchin richtete. Zwar liebte er sie nicht und fürchtete sich auch nicht vor ihr. Aber in seinen wunderlichen alten Launen schien sie eine ganz eigentümliche Anziehung für ihn zu besitzen. Die Hände wärmend, schaute er nach ihr hin und schaute fort, daß sogar die Werwölfin bisweilen ganz verwirrt wurde. Als sie einmal allein waren, fragte sie ihn, an was er denke.
»An Euch«, versetzte Paul ohne den mindesten Rückhalt.
»Und was denkt Ihr von mir?« fragte Mrs. Pipchin.
»Ich mache mir Gedanken, wie alt Ihr wohl sein mögt«, sagte Paul.
»Von solchen Dingen müßt Ihr nicht sprechen, junger Gentleman«, versetzte die Dame. »Das schickt sich nicht.«
»Warum nicht?« sagte Paul.
»Weil es unhöflich ist«, versetzte Mrs. Pipchin schnippisch.
»Unhöflich?« fragte Paul.
»Ja.«
»Wickham sagt«, entgegnete Paul unschuldig, »es sei auch nicht höflich, alle Hammelrippchen und Röstschnitten allein zu essen.«
»Wickham«, erwiderte Mrs. Pipchin aufbrausend, »ist eine boshafte, unverschämte, dreiste Person.«
»Was soll das?« fragte Paul.
»Geht Euch nichts an, Sir«, entgegnete Mrs. Pipchin. »Denkt an die Geschichte von dem kleinen Knaben, der von einem tollgewordenen Ochsen totgestoßen wurde, weil er Fragen stellte.«
»Wenn der Ochse toll war«, sagte Paul, »wie konnte er wissen, daß der Knabe Fragen stellte? Niemand kann hingehen und einem tollen Ochsen Geheimnisse hinterbringen. Ich glaube nicht an diese Geschichte.«
»Ihr glaubt nicht daran, Sir?« wiederholte Mrs. Pipchin erstaunt.
»Nein«, sagte Paul.
»Auch nicht, wenn es zufälligerweise ein zahmer Ochse gewesen wäre, Ihr kleiner Ungläubiger?« erwiderte Mrs. Pipchin.
Da Paul den Gegenstand noch nicht in diesem Licht betrachtet und seine Folgerungen bloß auf die angeführte Mondsüchtigkeit der Ochsen gebaut hatte, so mußte er sich für den Augenblick zufrieden geben. Aber er brütete über dem Thema mit einer so augenscheinlichen Absicht, Mrs. Pipchin gleich wieder zu fassen, daß sogar diese zähe Dame es für ratsam hielt, sich zurückzuziehen, bis der Gegenstand vergessen wäre.
Von dieser Zeit an schien Paul für Pipchin ebensoviel Anziehungskraft zu haben wie Pipchin für Paul. Statt ihn auf der andern Seite des Feuers sitzen zu lassen, rückte sie seinen Stuhl auf ihre Seite hinüber, und da blieb denn Paul in einer Ecke zwischen dem Kamin und Mrs. Pipchin, alles Licht seines kleinen Antlitzes in die schwarzen Kleiderfalten vertiefend, jede Linie und Runzel ihres Gesichts studierend und das harte graue Auge in einer Weise durchbohrend, daß es Mrs. Pipchin bisweilen schloß, als ob sie schlummere. Mrs. Pipchin hatte eine alte schwarze Katze, die in der Regel mitten vor dem Kamin lag, wo sie aus reinem Privatvergnügen schnurrte und nach dem Feuer hinblinzelte, bis die zusammengezogenen Pupillen ihrer Augen wie zwei Ausrufungszeichen aussahen. Wie sie so zusammen bei dem Feuer dasaßen, hätte man die gute alte Dame – wir verwahren uns gegen alle respektwidrige Deutung – für eine Hexe und Paul nebst der Katze für ihre zwei vertrauten Geister ansehen können. Auch hätte es völlig zu der Szene gepaßt, wenn die ganze Gesellschaft in einer windigen Nacht einen Ausflug durch den Schornstein gemacht hätte, um nie wieder zurückzukommen.
So weit kam es nun allerdings nicht, sondern nach Einbruch der Dunkelheit sah man die Katze, Paul und Mrs. Pipchin stets an ihren gewöhnlichen Plätzen, und Paul, der die Kameradschaft des Master Bitherstone gerne mied, machte Abend für Abend seine Studien an Mrs. Pipchin, an der Katze und an dem Feuer, als wären sie ein Zauberbuch in drei Bänden.
Mrs. Wickham hatte für Pauls Besonderheiten ihre eigene Deutung und leitete aus alledem die unheimlichsten Betrachtungen ab. In solchen Deutungen wurde sie durch eine wirre Aussicht auf Schornsteine von dem Zimmer aus, wo sie sich gewöhnlich aufhalten mußte, durch das Getöse des Windes und durch die Langeweile ihres gegenwärtigen Lebens (Gespenstigkeit lautet der starke Ausdruck der Mrs. Wickham) bestärkt. Es gehöre mit zu Mrs. Pipchins Politik, zu verhindern, daß ihr eigenes »junges Weibsbild« – dies war ihre stehende Bezeichnung eines jeden weiblichen Dienstboten – in Verkehr mit Mrs. Wickham kam. Darum verwandte sie viel Zeit darauf, sich hinter Türen zu verbergen und auf das arme Mädchen zuzuspringen, sooft sich dieses Mrs. Wickhams Zimmer näherte. Indessen stand es doch Berry frei, in diesem Quartier, soweit es sich mit der Besorgung der vielfältigen Obliegenheiten vertrug, an denen sie unablässig von Morgen bis in die Nacht arbeiten mußte, sich wenigstens zu unterhalten, und so erleichterte dann Mrs. Wickham gegen sie ihr Herz.
»Was er für ein hübscher Junge ist, wenn er schläft!« sagte Berry, vor Pauls Bett stehenbleibend, nachdem sie Mrs. Wickham ihr Nachtessen hinaufgetragen hatte.
»Ach«, seufzte Mrs. Wickham, »er hat es wohl nötig.«
»Nun, er ist auch nicht häßlich, wenn er wacht«, bemerkte Berry.
»Nein, Ma'am. O nein. Ebenso wenig wie meines Onkels Betsey Jane«, sagte Mrs. Wickham.
Berry machte eine Miene, als möchte sie gar gerne den Gedankenzusammenhang zwischen Paul Dombey und der Betsey Jane des Onkels von Mrs. Wickham erforschen.
»Meines Onkels Frau«, fuhr Mrs. Wickham fort, »starb genau wie seine Mama. Das Kind meines Onkels fing gerade so an, wie Master Paul, und den Leuten lief oft darob das