Dombey und Sohn. Charles Dickens
Читать онлайн книгу.zu halten, brach jetzt in einen so überwältigenden Hustenanfall aus, daß er vor fünf Minuten nicht wieder zur Ruhe kommen konnte, obschon seine Nachbarn ihn auf den Rücken klopften, Mr. Feeder ihm ein Glas Wasser an die Lippen hielt und der Aufwärter mehreremal zwischen dem Stuhl des Delinquenten und dem Seitentische wie eine Schildwache hin und her ging. Dann aber folgte tiefes Schweigen.
»Gentlemen«, sagte Doktor Blimber, »erhebt Euch zum Gebet. Cornelia, hilf Dombey hinunter.«
Infolge davon sah man nichts als dessen Skalp über dem Tischtuch. »Johnson wird mir morgen früh vor dem Frühstück das erste Kapitel aus dem Brief des heiligen Paulus an die Epheser in griechischer Sprache auswendig hersagen. Mr. Feeder, in einer halben Stunde wollen wir unsere Studien wieder aufnehmen.«
Die jungen Gentlemen verbeugten sich und traten ab. Mr. Feeder tat desgleichen.
Während der halben Stunde schlenderten die Zöglinge Arm in Arm paarweise auf einem kleinen Stück Rasen hinter dem Hause auf und ab oder bemühten sich, in der Brust von Briggs einen Funken Leben zu entzünden. Von etwas so Gemeinem, wie Spielen war, konnte natürlich keine Rede sein. Pünktlich zu der anberaumten Zeit ertönte die Metallplatte, und die Studien wurden unter der vereinten Leitung des Doktor Blimber und des Mr. Feeder wieder aufgenommen.
Da heute wegen Johnson das olympische Spiel des Auf- und Abschlenderns verkürzt worden war, so durften sie insgesamt vor dem Tee einen Spaziergang machen. Sogar Briggs – obschon er bis jetzt noch nicht angefangen hatte – nahm an dieser Zeitverschwendung teil, und als er unter den Spaziergängern dahinging, schaute er zwei- oder dreimal düster über die Klippe hinunter. Doktor Blimber begleitete sie, und Paul hatte die Ehre, von ihm an der Hand geführt zu werden – eine hohe Auszeichnung, obschon er sich darin gar klein und gebrechlich ausnahm.
Der Tee wurde in ebenso feinem Stil aufgetragen wie das Mittagsmahl. Nach demselben standen die jungen Gentlemen auf, machten wie zuvor ihre Bücklinge und entfernten sich, um die unvollendeten Arbeiten des Tages wieder aufzunehmen oder sich auf die, welche für morgen in Aussicht standen, vorzubereiten. Mr. Feeder zog sich jetzt in sein eigenes Zimmer zurück, und Paul nahm in einer Ecke Platz, bei sich Betrachtungen anstellend, ob wohl Florence auch an ihn denke, und was man in Mrs. Pipchins Kastell treibe.
Mr. Toots wurde anfänglich durch einen wichtigen Brief von dem Herzog von Wellington in Anspruch genommen, suchte aber später Paul auf und fragte ihn, nachdem er ihn wie früher geraume Zeit gemustert hatte, ob er gern Westen trage.
Pauls Antwort lautete:
»Ja, Sir.«
»Ich auch«, versetzte Toots.
Den ganzen Abend sprach Toots kein Wort mehr, blieb aber oft vor Paul stehen und sah ihn an, als ob er Gefallen an ihm fände. Doch auch hierin lag Gesellschaft, und da Paul gleichfalls nicht zum Reden geneigt war, so entsprach dieser stumme Verkehr seinem Zwecke weit besser als die Konversation.
Gegen acht Uhr rief die Metallplatte wieder zum Gebet im Speisezimmer, und nachher erschien der Aufwärter an einem Seitentisch, wo Brot, Käse und Bier für diejenigen jungen Gentlemen, die dergleichen wünschten, aufgestellt war. Die Feierlichkeit schloß mit den Worten des Doktors: »Gentlemen, morgen früh sieben Uhr wollen wir unsere Studien wieder aufnehmen!« und jetzt zum erstenmal sah Paul Cornelia Blimbers Auge, das auf ihm haftete. Nachdem der Doktor seine ermutigende Rede gehalten hatte, verbeugten sich die Zöglinge wieder und begaben sich zu Bett.
In der vertraulichen Abgeschiedenheit des obern Stübchens sagte Briggs, sein Kopf schmerze ihn zum Zerspringen, und er möchte gern tot sein, wenn nur zu Haus seine Mutter und seine Amsel nicht wären. Tozer sprach nicht viel, seufzte aber desto mehr und gab Paul zu verstehen, er solle nur acht haben, denn morgen werde die Reihe an ihn kommen. Nach diesen prophetischen Worten entkleidete er sich und verbarg seine düstere Stimmung in den Laken seines Bettes. Auch Briggs und Paul hatten bereits ihr Lager eingenommen, als der blödsichtige junge Mann erschien, um das Licht zu holen; er wünschte ihnen dabei gute Nacht und angenehme Träume. Soweit Briggs und Tozer in Frage kamen, war dies ein sehr eitler Wunsch; denn Paul, der lange wach blieb und nur mit Unterbrechungen schlief, bemerkte jedesmal, daß Briggs von seiner Aufgabe wie von einem Alp gedrückt wurde, während Tozer, dessen Gemüt auch im Schlaf von ähnlichen Ursachen aufgeregt war, obschon nicht in so hohem Grade, fremde Worte ausstieß. Paul meinte, dies müsse Griechisch oder Lateinisch sein; aber wie dem auch sein mochte, dieser Somnoloquismus übte in dem Schweigen der Nacht eine höchst unheimliche Wirkung aus.
Paul war endlich in einen süßen Schlaf versunken und träumte von Florence, mit welcher er Hand in Hand durch schöne Gärten ging. Da kamen sie plötzlich zu einer großen Sonnenblume, die sich im Nu zu einer großen, runden, laut tönenden Messingplatte verwandelte. Er öffnete die Augen und fand, daß es noch dunkel, ein windiger, regnerischer Morgen war. Aber die wirkliche Platte ließ ihre schrecklichen Töne erschallen, welche die Zöglinge nach der Halle hinunterrief.
Er stand augenblicklich auf und fand, daß Briggs mit einem von Alp und Kummer gedunsenen Gesicht, so daß man kaum seine Augen sah, eben die Stiefel anzog, während Tozer in sehr übler Laune schaudernd dastand und sich die Schultern rieb. Weil Paul nicht daran gewöhnt war, konnte er sich nicht leicht selbst ankleiden und bat daher seine Zimmergenossen, sie möchten die Güte haben, ihm einige Schnüre zuzuknöpfen. Da aber Briggs bloß hierauf erwiderte: »Possen« und Tozer meinte: »Sonst nichts!« ging er, sobald er im übrigen fertig war, nach dem nächsten Stockwerk hinunter, wo er ein hübsches junges Frauenzimmer in ledernen Handschuhen an einem Ofen lehnen sah. Das Mädchen schien sich über sein Aussehen zu verwundern und fragte ihn, wo seine Mutter sei; als ihr aber Paul sagte, sie sei tot, nahm sie ihre Handschuhe ab und tat, was er verlangte. Außerdem rieb sie ihm die Hände, um ihn zu wärmen, gab ihm einen Kuß und bedeutete ihm, so oft er etwas der Art brauche – sie meinte damit seinen Anzug – so solle er nur nach Melia fragen. Nachdem Paul herzlich gedankt und ihr versprochen hatte, er werde dies gewiß tun, schlich er nach dem Zimmer hinunter, in welchem die Gentlemen ihre Studien aufnehmen sollten; als er aber auf diesem Wege an einer halb angelehnten Tür vorbeikam, rief ihm hinter derselben eine Stimme zu: »Ist dies Dombey?«
»Ja, Ma'am«, versetzte Paul, denn er erkannte darin die Stimme der Miß Blimber.
»Nur herein, Dombey«, versetzte die junge Dame.
Und Paul entsprach der Aufforderung.
Miß Blimber sah genau wieder so aus wie gestern, nur daß sie jetzt ein großes Halstuch anhatte. Ihre kleinen blonden Locken waren so kraus wie nur je; auch hatte sie bereits ihre Brille auf, so daß Paul gar zu gern hätte wissen mögen, ob sie sich am Ende nicht auch mit derselben schlafen lege. Das Stübchen war ihr eigenes und hatte einige Bücher als Ausstattung; aber Feuer war nirgends zu sehen. Miß Blimber fror es nie, und sie wurde nie schläfrig.
»Nun, Dombey«, sagte Miß Blimber, »ich mache einen Ausgang wegen meiner Konstitution.«
Paul wunderte sich, was dies sein möchte und warum sie bei so schlechtem Wetter nicht lieber den Bedienten fortschickte, um es zu holen; indes enthielt er sich jeder Bemerkung über den Gegenstand, da seine Aufmerksamkeit ganz von einem Häufchen neuer Bücher in Anspruch genommen war, mit denen sich Miß Blimber kürzlich beschäftigt zu haben schien.
»Es sind die deinen, Dombey«, sagte Miß Blimber.
»Alle, Ma'am?« fragte Paul.
»Ja«, entgegnete Miß Blimber; »und Mr. Feeder wird bald noch mehr für dich auftreiben, wenn du so fleißig studierst, als ich von dir erwarte, Dombey.«
»Danke schön«, sagte Paul.
»Ich mache also einen Ausgang wegen meiner Konstitution«, nahm Miß Blimber wieder auf, »und während ich fort bin – das heißt, von jetzt an bis zum Frühstück, Dombey – wünsche ich, daß du alles überliest, was ich dir in diesen Büchern angemerkt habe. Du sagst mir dann, ob du vollkommen verstanden hast, was du daraus lernen sollst. Verliere keine Zeit damit, denn du hast keine übrig, sondern