Die Abenteuer des Sherlock Holmes. Arthur Conan Doyle
Читать онлайн книгу.können wir einen Lunch zu uns nehmen. Wie ich sehe, besteht das Programm zum größten Teil aus deutscher Musik, die meinem Geschmack eher entspricht als italienische oder französische. Sie ist grüblerisch, und ich möchte grübeln. Kommen Sie!«
Wir fuhren mit der Untergrundbahn bis Aldersgate, und ein kurzer Fußmarsch brachte uns zum Saxe-Coburg Square, dem Schauplatz der einzigartigen Geschichte, der wir morgens gelauscht hatten. Es war ein dumpfer, enger, schäbigfeiner Ort; vier Reihen trüber, zweistöckiger Ziegelhäuser blickten auf eine kleine, von Geländern umgebene Fläche, auf der ein von Unkraut durchsetzter Rasen und einige Grüppchen welker Lorbeerbäume schwer gegen eine rauchüberladene und unfreundliche Atmosphäre anzukämpfen hatten. Drei vergoldete Kugeln und ein braunes Schild an einem Eckhaus, auf dem in weißen Buchstaben Jabez Wilson stand, zeigten uns, wo unser rothaariger Klient seine Geschäfte machte. Sherlock Holmes blieb vor dem Haus stehen, legte den Kopf schief und sah sich alles gründlich an; zwischen halbgeschlossenen Lidern leuchteten seine Augen hell. Danach ging er langsam die Straße hinauf und dann wieder hinab bis zur Ecke und musterte weiter die Häuser. Schließlich kam er zum Haus des Pfandleihers zurück, und nachdem er mit seinem Stock zwei- oder dreimal heftig auf das Pflaster geschlagen hatte, ging er zur Tür und klopfte. Sogleich wurde sie von einem aufgeweckt dreinblickenden, glattrasierten jungen Mann geöffnet, der ihn aufforderte, einzutreten.
»Danke sehr«, sagte Holmes, »aber ich wollte Sie nur fragen, wie man von hier aus nach The Strand kommt.«
»Dritte rechts, vierte links«, antwortete der Assistent prompt und schloß die Tür wieder.
»Das ist ein gerissener Bursche«, bemerkte Holmes, als wir uns von dem Haus entfernten. »Meiner Meinung nach ist er der viertschlaueste Mann in London, und was Verwegenheit angeht, bin ich nicht sicher, ob er nicht Anspruch auf Platz Drei erheben kann. Ich habe von ihm schon einiges gehört.«
»Offenbar spielt Mr. Wilsons Assistent eine nicht unbeträchtliche Rolle in diesem Rätsel der Liga der Rotschöpfe«, sagte ich. »Ich schätze, Sie haben nur deshalb nach dem Weg gefragt, um ihn zu sehen.«
»Nicht ihn.«
»Was denn?«
»Die Knie seiner Hosen.«
»Und was haben Sie gesehen?«
»Was ich erwartet hatte.«
»Warum haben Sie auf das Pflaster geschlagen?«
»Mein lieber Doktor, dies ist nicht die Zeit für Gespräche, sondern für Beobachtungen. Wir sind Spione im Land des Feindes. Wir wissen einiges über den Saxe-Coburg Square. Erforschen wir jetzt die Pfade, die dahinter liegen.«
Als wir am Ende des abgeschiedenen Saxe-Coburg Square um die Ecke bogen, befanden wir uns in einer Straße, die sich von dem Platz so sehr unterschied wie die Vorderseite eines Bildes von der Rückseite. Es war eine der Hauptschlagadern des Verkehrs von der City nach Norden und Westen. Die Fahrbahn war von den ungeheuren, gegenläufigen Gezeitenströmen des in die Stadt und aus ihr heraus fließenden Verkehrs überfüllt, und die Gehsteige waren schwarz von den wimmelnden Schwärmen der Fußgänger. Als wir die Reihen vornehmer Läden und stattlicher Geschäftshäuser betrachteten, konnten wir uns kaum vorstellen, daß auf ihrer Rückseite wirklich der welke, in der Zeit stehengebliebene Platz liegen sollte, den wir eben erst verlassen hatten.
»Nun wollen wir mal sehen«, sagte Holmes; er stand an der Straßenecke und blickte die Häuserfront entlang. »Ich möchte mir die Reihenfolge der Häuser hier genau einprägen. Es ist eines meiner Steckenpferde, London genau zu kennen. Mortimer, der Tabakhändler, der kleine Zeitungsladen, die Coburg-Filiale der City and Suburban Bank, das Vegetarische Restaurant, und das Lagerhaus von McFarlane, dem Wagenbauer. Da beginnt dann der nächste Block. Und nun, Doktor, haben wir unsere Arbeit getan, also ist es an der Zeit für ein wenig Spiel. Ein Sandwich und eine Tasse Kaffee, und dann auf ins Land der Geigen, wo alles Süße und Feinheit und Harmonie ist und keine rotschöpfigen Klienten uns mit Scherzfragen schikanieren.«
Mein Freund war ein begeisterter Musiker und selbst nicht nur ein sehr guter Geiger, sondern auch ein Komponist mit ansehnlichen Leistungen. Er brachte den ganzen Nachmittag in der Parkettloge zu, angetan mit der vollkommensten Heiterkeit; seine langen, schmalen Finger bewegten sich sanft im Takt der Musik, während sein milde lächelndes Gesicht und seine verträumt schmachtenden Augen denen von Holmes dem Spürhund, Holmes dem unerbittlichen, scharfsinnigen, zupackenden Kriminalisten so unähnlich waren, wie man es sich unähnlicher nicht vorstellen kann. Die zwei Wesen seines einzigartigen Charakters setzten sich abwechselnd durch, und seine äußerste Genauigkeit und Schlauheit stellten, wie ich oft bei mir überlegte, eine Reaktion auf die poetische und beschauliche Stimmung dar, die sich seiner gelegentlich bemächtigte. Der Pendelschlag seines Wesens trug ihn von äußerster Mattheit zu verzehrender Energie, und wie ich wohl wußte, war er nie furchtbarer, als wenn er tagelang in seinem Lehnsessel die Zeit zwischen Improvisationen auf der Geige und seinen alten Fraktur-Editionen vertändelt hatte. Dann mochte jählings das Jagdfieber ihn packen, und sein glänzendes Denkvermögen schwang sich zu den Höhen der Intuition auf, bis jene, die mit seinen Methoden nicht vertraut waren, ihn scheel ansahen, als einen Mann, dessen Kenntnisse nicht die anderer Sterblicher waren. Als ich ihn an diesem Nachmittag in der St. James' Hall so völlig in Musik eingehüllt sah, fühlte ich, daß eine schlimme Zeit über jene zu kommen sich anschickte, die zur Strecke zu bringen er sich vorgenommen hatte.
»Sie wollen sicher nach Hause gehen, Doktor«, meinte er, als wir das Konzert verließen.
»Ja, das sollte ich wohl besser tun.«
»Und ich habe Arbeit, die zu erledigen einige Stunden in Anspruch nehmen wird. Diese Geschichte am Coburg Square ist sehr ernst.«
»Inwiefern ernst?«
»Da ist ein großes Verbrechen in Vorbereitung. Ich habe gute Gründe für die Annahme, daß wir es noch rechtzeitig verhindern können. Aber daß heute Samstag ist, macht die Sache noch ein wenig verwickelter. Ich werde heute nacht Ihre Hilfe brauchen.«
»Zu welcher Zeit?«
»Zehn ist früh genug.«
»Ich werde um zehn in der Baker Street sein.«
»Sehr gut. Ach, übrigens, Doktor, es könnte ein wenig gefährlich werden, also seien Sie so gut und stecken Sie Ihren Armeerevolver ein.« Er winkte mir zu, wandte sich auf dem Absatz um und war im Nu in der Menge verschwunden.
Ich nehme an, daß ich nicht beschränkter bin als meine Mitmenschen, aber bei meinem Umgang mit Sherlock Holmes deprimierte mich doch immer das Gefühl meiner eigenen Dummheit. Da hatte ich nun gehört, was er gehört hatte, gesehen, was er gesehen hatte, und doch war aus seinen Worten ersichtlich, daß er nicht nur deutlich sah, was geschehen war, sondern auch, was erst geschehen sollte, während mir die ganze Angelegenheit immer noch verworren und grotesk erschien. Auf der Heimfahrt zu meinem Haus in Kensington überdachte ich alles, von der außerordentlichen Geschichte des rotschöpfigen Kopisten der Encyclopedia bis hin zum Besuch am Saxe-Coburg Square und den ominösen Worten, mit denen sich Holmes von mir verabschiedet hatte. Was war mit dieser nächtlichen Expedition, und warum sollte ich bewaffnet sein? Wohin wollten wir gehen, um dort was zu tun? Ich hatte von Holmes den Hinweis erhalten, daß dieser glattgesichtige Assistent des Pfandleihers ein Mann sei, den man fürchten müsse – ein Mann, der ein dunkles Spiel spielen mochte. Ich zerbrach mir den Kopf, um es auszutüfteln, gab dann aber verzweifelt auf und ließ die Sache auf sich beruhen, in der Hoffnung darauf, daß die Nacht eine Erklärung bringen würde.
Es war Viertel nach neun, als ich von zu Hause aufbrach und mich auf den Weg durch den Park und über die Oxford Street zur Baker Street machte. Zwei zweisitzige Droschken standen vor der Tür, und als ich den Korridor betrat, hörte ich von oben Stimmen. Ich betrat seinen Raum und fand Holmes in angeregtem Gespräch mit zwei Männern vor, deren einen ich als den Polizeibeamten Peter Jones erkannte; der andere war ein langer, dürrer Mann mit traurigem Gesicht, glänzendem Hut und bedrückend respektablem Gehrock.
»Ha! Die Gesellschaft ist versammelt«, sagte Holmes; er knöpfte seine Seemannsjacke zu und nahm die schwere Jagdpeitsche aus dem Ständer. »Watson, ich