Die tanzenden Männchen. Arthur Conan Doyle
Читать онлайн книгу.Ich wandte zuerst Schmeicheleien an, später ging ich zu Drohungen über. Daß sie meine Nachrichten las, wußte ich, denn sie hatte einmal eine Antwort darunter geschrieben. Zuletzt schickte sie mir einen Brief, worin sie mich inständig bat, fortzugehen; es würde ihr das Herz brechen, wenn ihr Mann einen Skandal erleben müßte. Sie schrieb, daß sie um drei Uhr morgens, während ihr Mann schliefe, ans Fenster herunterkommen und mit mir sprechen wollte. Sie erschien und brachte Geld mit, um mich dadurch zur Abreise zu bewegen. Das machte mich wahnsinnig. Ich ergriff ihren Arm und suchte sie durchs Fenster zu ziehen. In diesem Moment stürzte der Mann ins Zimmer. Er hatte einen Revolver in der Hand. Elsie war zu Boden gesunken, und wir Männer standen uns gegenüber, von Angesicht zu Angesicht. Ich war ebenfalls bewaffnet und hielt ihm den Revolver entgegen. Er schoß, und ich beinahe zugleich mit ihm; er aber fehlte, während mein Schuß tödlich war. Ich machte mich sofort durch den Garten aus dem Staub; ich hörte nur noch, wie hinter mir das Fenster geschlossen wurde. So, bei Gott, ist es gewesen, das ist die volle Wahrheit, meine Herren. Ich habe dann weiter nichts mehr über die Sache erfahren, bis vorhin der Junge zu mir geritten kam und mir die Botschaft brachte, die mich veranlaßte, hierher zu kommen und wie ein Vogel ins Garn zu gehen.«
Während der Amerikaner dieses Geständnis abgelegt hatte, war der Wagen mit zwei uniformierten Schutzleuten vorgefahren. Inspektor Martin stand auf und klopfte seinen Gefangenen auf die Schulter:
»Wir müssen gehen.«
»Kann ich sie erst noch 'mal sehen?«
»Nein, sie ist bewußtlos. – Herr Holmes, ich hoffe weiter nichts, als daß mir in schwierigen Fällen stets das Glück zuteil wird, Sie an der Seite zu haben.«
Wir standen am Fenster und sahen dem davonfahrenden Wagen nach. Als ich mich umwandte, fiel mein Blick auf das zerknitterte Papier, das der Gefangene auf den Tisch geworfen hatte. Es enthielt die Notiz, womit ihn Holmes hinters Licht geführt hatte.
»Sieh 'mal, ob du's lesen kannst, Watson,« sagte er lächelnd.
Es stand weiter nichts darauf als folgende Reihe tanzender Männchen:
»Wenn du meine Ausführungen von vorhin begriffen hast, wirst du leicht finden, daß es einfach heißt: come here at once [komme sofort hierher]. Ich war überzeugt, daß er diese Einladung nicht ausschlagen würde, weil er sich nicht denken konnte, daß sie von einem anderen Menschen als von ihr käme. Auf diese Weise, mein lieber Watson, haben wir die tanzenden Männchen auch einmal in den Dienst des Guten gestellt, nachdem sie so oft bösen Zwecken gedient haben, und ich glaube, mein Versprechen, dir etwas Ungewöhnliches für dein Buch zu liefern, gehalten zu haben. Drei Uhr vierzig geht unser Zug, sodaß wir zum Essen wieder in der Bakerstraße sein können.«
Noch ein paar Worte zum Schluß! Der Amerikaner Abe Slaney wurde zum Tode verurteilt, aber in Anbetracht der mildernden Umstände, und weil feststand, daß Hilton Cubitt zuerst geschossen hatte, zu lebenslänglicher Zuchthausstrafe begnadigt. Von Frau Cubitt habe ich nur gehört, daß sie noch Witwe ist. Sie ist vollständig wiederhergestellt und widmet ihr Leben der Fürsorge für die Armen und der Verwaltung des Gutes ihres Gatten.
Die Entführung aus der Klosterschule.
Obwohl wir in unserem bescheidenen Heim in der Bakerstraße schon manchen Besucher in recht dramatischer Weise hatten kommen und gehen sehen, kann ich mich an kein plötzlicheres und merkwürdigeres Auftreten erinnern als es das des Herrn Dr. Thorneycroft Huxtable war, da er zum ersten Male bei uns erschien. Zuerst kam seine Visitenkarte, die zu klein erschien, um alle seine akademischen Grade und Würden fassen zu können, nach wenigen Sekunden trat er selbst ein – so fest, pomphaft und würdevoll, als ob er die verkörperte Kraft und Selbstzucht wäre. Und doch war, als er kaum die Türe hinter sich geschlossen hatte, seine erste Tat die, daß er gegen den Tisch taumelte und umfiel. So lag denn seine majestätische Gestalt regungslos der Länge nach auf unserem Zimmerteppich.
Wir sprangen auf und starrten einen Moment, sprachlos vor Ueberraschung, auf dieses gewaltige Wrack, das einem unvorhergesehenen, plötzlichen Sturm weit draußen auf dem Ozean des Lebens zum Opfer gefallen zu sein schien. Dann holte Holmes rasch ein Kissen, um es ihm unter den Kopf zu legen, und ich brachte Branntwein, womit ich seine Lippen benetzte. Das totenblasse Gesicht zeigte die Spuren schwerer Sorge, die dicken Wassersäcke unter den geschlossenen Augen waren schwarzblau wie Blei, um den offenen Mund spielten schmerzliche Züge. Er war nicht rasiert und nicht gekämmt. Kragen und Hemd deuteten darauf hin, daß der arme Mann, der vor uns gebrochen am Boden lag, eine lange Reise hinter sich hatte.
»Was ist's, Watson?« fragte mich Holmes.
»Vollkommene Erschöpfung – möglicherweise bloß Hunger und Müdigkeit,« antwortete ich, während ich den schwachen Puls fühlte.
»Er hat eine Rückfahrkarte von Mackleton in Nord-England,« sagte Holmes, indem er sie aus der Westentasche herauszog. »Es ist jetzt noch nicht ganz zwölf Uhr. Er muß sehr früh aufgebrochen sein.«
Die faltigen Augenlider fingen zu zucken an, und bald blickte ein Paar offener, grauer Augen zu uns empor. Im nächsten Augenblick war der Mann wieder auf den Beinen, und die starke Röte in seinem Gesicht verriet seine Scham.
»Verzeihen Sie diese Schwäche, Herr Holmes, ich bin etwas übermüdet. – Danke Ihnen. Wenn ich ein Glas Milch und ein Stückchen Zwieback bekommen könnte, würde ich rasch wieder wohl sein. Ich bin persönlich gekommen, um Sie dazu zu bewegen, mit mir zurückzufahren. Ich befürchtete, daß Sie ein Telegramm von der Dringlichkeit meines Falles nicht hinreichend überzeugen würde.«
»Wenn Sie sich ganz erholt haben –«
»Ich fühle mich wieder vollkommen wohl. Ich begreife gar nicht, wie ich so schwach sein konnte. Ich bitte Sie, Herr Holmes, mit dem nächsten Zug mit mir nach Mackleton zu kommen.«
Mein Freund schüttelte den Kopf.
»Mein Kollege Dr. Watson wird mir bestätigen, daß wir gegenwärtig sehr stark beschäftigt sind. Ich habe noch mit den Ferrersschen Dokumenten zu tun, außerdem steht in Kürze die Abergavennyer Mordaffäre zur Verhandlung; es könnte mich also nur eine außergewöhnlich wichtige Angelegenheit zu einer Reise veranlassen.«
»Richtig!« rief unser Besucher und schlug die Hände überm Kopf zusammen. »Haben Sie denn noch nichts von der Entführung des einzigen Sohnes des Herzogs von Holdernesse gehört?«
»Was! des ehemaligen Ministerpräsidenten?«
»Gewiß. Wir hatten versucht, es tot zu schweigen, aber der »Globe« hat in der gestrigen Abendnummer Andeutungen gebracht. Ich glaubte, es wäre Ihnen schon zu Ohren gekommen.«
Holmes streckte seinen langen dünnen Arm aus und nahm den Band mit ›H‹ aus seiner Enzyklopädie vom Bücherbrett.
»›Holdernesse, sechster Herzog, Dr. juris, Dr. philosophiae u.s.w., Professor, Staatsrat, Baron Beverley, Graf von Carston‹ – um Gottes willen – was für eine Menge Titel! – ›Lord Hallamshire seit 1900. Verheiratet mit Edith, der Tochter des Freiherrn von Appledore 1888. Erbe und einziges Kind Lord Saltire. Grundbesitz ungefähr zweihundertfünfzigtausend Morgen groß. Bergwerke in Lancashire und Wales. Adressen: Carlton House Terrace; Holdernesse Hall, Hallamshire; Carston Castle, Bangor, Wales. Lord der Admiralität, 1872; Staatssekretär –‹ Das genügt, der Mann ist sicher einer der hervorragendsten Bürger!«
»Der hervorragendste und vielleicht auch der reichste. Ich weiß wohl, Herr Holmes, daß Sie nicht um des Geldes, sondern um der Sache willen arbeiten, aber ich will Ihnen doch sagen, daß Seine Hoheit mir schon angedeutet hat, demjenigen, der den Aufenthaltsort seines Sohnes ausfindig macht, fünftausend Pfund, und demjenigen, der ihm die Räuber seines Kindes namhaft machen kann, weitere tausend Pfund auszahlen zu wollen.«
»Das ist ein fürstliches Angebot,« sagte Holmes. »Ich denke, Watson, wir begleiten Herrn Direktor Huxtable nach dem Norden zurück. Und nun, Herr Doktor, können Sie mir, wenn Sie Ihre Milch verzehrt haben, gütigst erzählen, wann