Systemtheorie. Christian Schuldt

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Systemtheorie - Christian Schuldt


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anmutende Titel von Luhmanns 1.200-seitigem Hauptwerk »Die Gesellschaft der Gesellschaft«, mit dem er 1997 sein Theoriegebäude fertig stellte. Vorangegangen war über drei Jahrzehnte lang die Arbeit an einer Theorie, die in ihrer Ausgefeiltheit, ihrer historischen Reichhaltigkeit und ihrer praktisch unbegrenzten Reichweite noch immer beispiellos ist – und damit wie geschaffen, um auch die hochkomplexen Muster der heutigen Netzwerkgesellschaft zu beobachten (mehr dazu im Kapitel »Systemtheorie der Netzwerkgesellschaft«).

      Seit ihrem Erscheinen in den spätern 1960er-Jahren hinterließ und hinterlässt Luhmanns Theorie Spuren in den verschiedensten Gesellschaftsbereichen und Wissenschaftsdisziplinen. Der Grund für diese umfassende und fortwährende Popularität liegt auf der Hand beziehungsweise im Auge des Betrachters: Aufgrund ihres hohen Abstraktionsgrades und ihrer begrifflichen Komplexität kann die Systemtheorie immer und überall für fruchtbare Erkenntnisse sorgen. Sie macht die scheinbar unterschiedlichsten Dinge vergleichbar – ohne dabei ihren eigenen Beobachtungsstandpunkt zu verschleiern. Denn alle Beobachtungen der Systemtheorie sind immer auch Selbstbeobachtungen.

      Es ist nicht zuletzt diese komparatistische Komponente, die die Systemtheorie so attraktiv macht: Der Abschied von jahrhundertealten Denkmodellen eröffnet neue Kombinationsmöglichkeiten zwischen Dingen, die zunächst nichts miteinander zu tun zu haben scheinen, etwa Liebe und Kunst oder Einzeller und Interaktionen.

       Contra Luhmann: Systemtheorie als Störenfried

      Was lässt sich gegen die Systemtheorie ins Feld führen? Kritiker zielen insbesondere auf moralische Defizite: Sie bemängeln Luhmanns Präferenz für das neutrale Beobachten und seine Skepsis gegenüber einem allzu forschen Eingreifen in gesellschaftliche Prozesse.

       Mensch, ärgere dich nicht!

      »Es ist eine Konvention des Kommunikationssystems Gesellschaft, wenn man davon ausgeht, dass Menschen kommu-nizieren können.«

      (Luhmann, »Wie ist Bewusstsein an Kommunikation beteiligt?«, 37)

      In diese Richtung zielt auch der Vorwurf, Luhmanns Theorie sei »unmenschlich«. Tatsächlich besteht die Gesellschaft laut Luhmann nicht aus Menschen, sondern aus Kommunikationen: Nur die Kommunikation kann kommunizieren, nicht aber der Mensch. Kommunikation bildet ein selbstreferenzielles System. Ein System, das seine Elemente und Strukturen selbst erzeugt und ausschließlich eigenen Regeln folgt. Diesen kommunikativen Flow können psychische Systeme zwar anzapfen, aber nicht steuern.

      Damit erklärt Luhmann zwar das alteuropäische Konzept des Subjekts für tot – doch das bedeutet keinesfalls, dass der Mensch »weniger« leben würde. Vielmehr liefert Luhmann eine weitaus differenziertere Beschreibung des Menschen, indem er ihn als eine Art Schnittstelle definiert, an der sich verschiedene Systemtypen begegnen. Die prominentesten sind das psychische System (Bewusstsein), das organische System (Organismus) und soziale Systeme (Kommunikation). Jedes dieser Systeme ist »operativ geschlossen«: Weder kann man die Gedanken anderer Bewusstseine lesen noch die chemischen Vorgänge wahrnehmen, die das Funktionieren des eigenen Gehirns ermöglichen – noch kommunikative Prozesse direkt beeinflussen. Systeme sind Selbstbestimmer.

       Blindflug

      »Diese Theorieanlage erzwingt eine Darstellung in ungewöhnlicher Abstraktionslage. Der Flug muss über den Wolken stattfinden, und es ist mit einer ziemlich geschlossenen Wolkendecke zu rechnen. Man muss sich auf die eigenen Instrumente verlassen.«

      (Luhmann, »Soziale Systeme«, 12f.)

      Mit der Unterscheidung zwischen Kommunikation und Bewusstsein befreit Luhmann den Menschen also gleichsam aus den geistigen Gefängnissen gesellschaftlicher Vorgaben – auch jenen, die im Zeichen von Konsens und Kritik errichtet werden. Die Systemtheorie dagegen verweist von sich aus auf die blinden Flecken jeder Beobachtung: Man kann nicht sehen, was man nicht sieht, wenn man sieht, was man sieht. Dieser Verweis auf die Unbeobachtbarkeit des eigenen Beobachtens führt eindimensionale Beschreibungen ad absurdum. Erst so wird ein differenzierteres Verständnis der Gesellschaft möglich. Und damit auch ein differenzierteres Bild des Menschen.

      Eine weitere Verständnisbarriere bildet die abstoßende Aura, die den Begriff »System« umgibt. Diese Vokabel assoziiert unschöne Dinge wie Kälte, Totalitarismus, Funktionalismus. Luhmanns Systembegriff impliziert jedoch keineswegs eine Ordnung, die es herzustellen oder aufrechtzuerhalten gilt. Im Gegenteil: Selbstreferenzielle Systeme sind zwar geschlossene Systeme, doch diese Geschlossenheit ist zugleich Voraussetzung für ihre Offenheit gegenüber den jeweiligen Umwelten. Systeme sind immer nur Systeme in Differenz zu ihren Umwelten: ohne Umwelt kein System. Wo also der Systembegriff Einheitlichkeit suggeriert, operiert Luhmann grundsätzlich mit Differenzen. Daher wäre die Systemtheorie auch zutreffender »System-Umwelt-Differenz-Theorie« zu nennen.

      Abgesehen davon wartet Luhmanns Theorie aber auch mit einem hausgemachten Hindernis auf, nämlich einer schwierigen Theoriesprache, die äußerst komplex ist und recht weit entfernt vom alltäglichen Sprachgebrauch. Begriffe wie »Autopoiesis«, »Kontingenz« oder »Selbstexemptionsverbot« findet man vielleicht im Fremdwörterduden, nicht aber im täglichen Leben. Doch gerade weil der Systemtheorie-Slang so komplementär zur Alltagssprache steht, ist er zugleich auch in der Lage, alles Alltägliche zu beschreiben. Anders gesagt: Um ihr Erklärungspotenzial voll entfalten zu können, um Probleme beobachten und lösen zu können, muss die Theorie zunächst einmal selbst eine Eigenkomplexität aufbauen. Und das heißt auch: eigene Sprachformen entwickeln, die ein voreiliges Verstehen verhindern. Eine komplizierte Theoriesprache hat damit auch den Vorteil, Verfremdungseffekte zu erzielen. Gerade ein anfängliches Nichtverstehen ermöglicht dann ein tiefenwirksames Theorieverständnis.

       Was wäre, wenn?

      »Ausgangspunkt meines Denkens ist eine Überlegung wie die folgende: Wenn man eine Gesellschaft einmal in einer bestimmten Weise sähe, dann interessiert mich, welche Konsequenzen das hätte.«

      (Luhmann, »Archimedes und wir«, 151)

      Jeder Luhmann-Leser kennt die anfangs frustrierende, später umso erhellendere Erfahrung, dass seine Bücher erst nach einigen hundert Seiten ihre Wirkung entfalten, also eine gewisse epische Breite benötigen. Um Luhmanns Texte mit Gewinn lesen zu können – und um die Lektüre kommt man nicht herum, will man die Systemtheorie wirklich verstehen –, muss man sich auf die fremdartige Begrifflichkeit und das labyrinthische Theoriedesign einlassen. Dafür werden anfängliche Durststrecken später mit erfrischenden Erkenntnisgewinnen belohnt. Denn hat man das theoretische Begriffsarsenal erst einmal antrainiert, wird sichtbar, dass und wie man mit der Luhmannschen Optik genauer und differenzierter beobachten kann.

       Pro Luhmann: Systemtheorie als Passion

      Die Grundfrage, die Luhmann stellt, lautet: Wie ist soziale Ordnung möglich? Wie kann so etwas Unwahrscheinliches wie die Gesellschaft entstehen? Die Antwort der Systemtheorie ist ebenso unwahrscheinlich: Gesellschaft entsteht durch verschiedene Formen von Kommunikation, die sich voneinander abgrenzen, eigene Hoheitsgebiete erobern – und genau damit die Einheit der Gesellschaft bilden.

      So ist die moderne Gesellschaft durch funktionale Differenzierung gekennzeichnet: Innerhalb des Gesamtsystems Gesellschaft operieren eigenständige Funktionssysteme wie Wirtschaft, Recht oder Kunst, die mit spezifischen Positiv/Negativ-Codes die Kommunikation filtern. Diese Funktionssysteme entscheiden eigenmächtig, welche Kommunikationen aneinander anschließen, und verwandeln damit unwahrscheinliche Kommunikation in wahrscheinliche Kommunikation. So simpel das zunächst scheinen mag, so komplex sind die kommunikativen Mechanismen, die diesem Prozess zugrunde liegen und die Luhmann detailliert durchleuchtet hat.

       Schöner denken

      »Ich denke manchmal, es fehlt uns nicht an gelehrter Prosa, sondern an gelehrter Poesie (...) Vielleicht sollte es für anspruchsvolle Theorieleistungen eine Art Parallelpoe-sie geben, die alles noch einmal anders sagt und damit die Wissenschaftssprache in die Grenzen ihres Funktionssystems zurückweist.«

      (Luhmann, »Soziologische Aufklärung 3«, 176f.)

      Weil Luhmanns Beobachtungen


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