Systemtheorie. Christian Schuldt

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Systemtheorie - Christian Schuldt


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muss sie entparadoxieren.

      Wie funktioniert das? Die Systemtheorie wagt den entscheidenden Schritt nach vorn: Sie macht die grundlegende Paradoxie »unsichtbar«, indem sie sie in ihren Operationen entfaltet. Statt die Selbstreferenz ins Unendliche zu verfolgen, legt Luhmann los. Er zeigt, dass es keine Beobachtung ohne blinde Flecke geben kann. Und mehr noch: dass erst eine gewisse »Blindheit« Einsichten ermöglicht. Deshalb blendet Luhmann die Grundparadoxie aus und konzentriert sich auf die Operationen seiner Theorie. Die Frage lautet dann nicht mehr: Wie kann eine selbstreferenziell gebaute Theorie Universalität beanspruchen? Sondern: Welcher Mehrwert ergibt sich, wenn man diese Frage ausklammert und beobachtet, welche Resultate die Theorie hervorbringt?

       Widerspruch erwünscht

      »Wenn das soziale Leben selbst nicht logisch sauber arbeitet, lässt sich auch eine Theorie des Sozialen nicht logisch widerspruchsfrei formulieren.«

      (Luhmann, »Soziale Systeme«, 491)

      Betrachtet man also ein Liebespaar unter systemtheoretischer Lupe, geht es nicht darum, das »Wesen« der Liebe zu ergründen, sondern um die vielfältigen Erkenntnisse, die sich ergeben, wenn man das soziale System der Intimität mit Luhmanns Handwerkszeug erkundet. Der große Vorteil dabei ist: Die Einsichten, die dann über das »symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium« der Liebe oder über den »symbiotischen Mechanismus« der Sexualität ans Tageslicht kommen, sind so fundiert, dass sie allgemeingültig sind – obwohl und weil sie ihre eigene Relativität ständig miteinbeziehen.

      Mit dieser bewussten »Funktionalisierung« des Paradoxieproblems macht sich die Systemtheorie selbst anschlussfähig. Zwar trägt sie sich quasi münchhausenmäßig am Schopfe ihrer eigenen Terminologie, doch sie ist sich dieser Paradoxie bewusst – und stützt sich dabei zugleich auf zahlreiche Erkenntnisse wissenschaftlicher Nachbardisziplinen. Dieses Verständnis von Paradoxierung und Entparadoxierung liefert den eigentlichen Schlüssel zu Luhmanns Theoriegebäude.

      Ein selbstreferenzieller Ausgangspunkt und die »Letztfundierung« in einer Paradoxie sind generelle Merkmale eines postmodernen Denkens. Daher lassen sich zahlreiche Paradoxie-Parallelen zu anderen selbstreferenziell strukturierten Wissenschaftstrends aufzeigen, von Chaostheorie und fraktaler Geometrie bis zu virtuellen Realitäten. Stets handelt es sich um Beschreibungen, die in Bereichen selbsterzeugter Unbestimmtheiten stattfinden. Weniger widersprüchlich ist echte Erkenntnis heute nicht mehr möglich. Und nur von dieser Basis aus ist die systemtheoretische Grundfrage zu klären: Wie ist soziale Ordnung möglich?

       Aller Anfang ist Differenz

      Der doppelte Theorieboden der Systemtheorie, das gleichzeitige Offenlegen und Entfalten der Grundparadoxie, ermöglicht Beobachtungen, die weder in selbstreferenziellen Zirkeln noch in ontologischen Weltbildern hängen bleiben – und die Resultate hervorbringen, die zugleich konstruktiv und realistisch sind. Wenn Luhmann also von selbstreferenziellen Systemen spricht, ist das zwar eine Aussage über die »Realität« von Systemen, aber es ist zugleich eine Aussage eines beobachtenden Systems. Eine Aussage, mit der sich die Theorie sozialer Systeme selbst ins Rollen bringt.

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      »Die Letztfundierung in einem Paradox gilt als eines der zentralen Merkmale postmodernen Denkens. Die Paradoxie ist die Orthodoxie unserer Zeit.«

      (Luhmann, »Die Gesellschaft der Gesellschaft«, 1144)

      Dass die Systemtheorie mit der erkenntnistheoretischen Tradition der Philosophie wenig am Hut hat, dürfte inzwischen klar geworden sein. Im Gegenteil verlagert Luhmann den Erkenntnisstandpunkt vom Subjekt zurück in die beobachtete Realität und macht so die Theorie zum Bestandteil ihrer eigenen Gegenstände. Erst so kann die Systemtheorie ihre Flughöhe erreichen und ihr Auflösungsvermögen, ihre Abstraktions- und Differenzierungspotenziale entfalten.

      Deshalb kristallisiert sich Luhmanns Denken auch um die Konstruktion eines eigenen Begriffssystems und nicht etwa um die Auseinandersetzung mit Fachtraditionen. Vom »Wiederaufwärmen und Immer-wieder-Abnagen der Knochen der Klassiker« (Auw, 28) hielt er wenig. Eine Art geistige Verwandtschaft besteht dagegen, wie erwähnt, mit dem spielerisch-anarchischen Denken Nietzsches und dem dialektischen Duktus Hegels. Mit Letzterem verbindet Luhmann auch in Sachen Theorie-Dimensionen einiges, und nicht umsonst hieß der Hegel-Preisträger 1988 Niklas Luhmann. Anders als Hegel aber zielt Luhmann, trotz des gemeinsamen Hangs zum Widersprüchlichen und einer ähnlich selbstreferenziellen Theorieanlage, nicht auf Einheit, sondern auf Differenz. Wo Hegel in Subjekt und Weltgeist die Einheit von Identität und Differenz sieht, setzt Luhmann auf die selbstreferenzielle Differenz zwischen Identität und Differenz: »Am Anfang steht also nicht Identität, sondern Differenz.« (SoSy, 112)

      Sucht man in der Soziologie nach historischen Vorläufern Luhmanns, stößt man auf Emile Durkheim (1858-1917). Im Gegensatz zur klassischen verstehenden Soziologie Max Webers fragte Durkheim nicht nach den individuellen Erscheinungen, sondern nach den sozialen Wechselbeziehungen, die ihnen zu Grunde liegen. Dieser holistische, aufs Ganze zielende Ansatz entspricht der Systemtheorie, die ebenfalls das Verhalten des Einzelnen aus dem Zusammenhang sozialer Systeme schließt.

       Umweltfreundlich

      »Jedes selbstreferenzielle System hat nur den Umweltkontakt, den es sich selbst ermöglicht, und keine Umwelt ‚an sich‘.«

      (Luhmann, »Soziale Systeme«, 146)

      Eine wesentlich direktere Verwandtschaft besteht zu der Systemtheorie von Talcott Parsons (1902-1979). Parsons setzte voll und ganz auf die Strukturen sozialer Systeme: Seine »strukturell-funktionalistische« Systemtheorie untersuchte zunächst die Struktur eines Systems, um dann die Funktionen zu bestimmen, mit denen sie erhalten werden soll. Die Funktion stand bei Parsons ganz im Dienste der Bestandssicherung des Systems.

      Im Rahmen einer Fortbildung lernte Niklas Luhmann 1960/61, damals noch Verwaltungsbeamter, Talcott Parsons und dessen Theorie kennen. Und er entdeckte gravierende Defizite: »Ich hatte die Vorstellung, dass Funktion nicht von Strukturen abhängig, sondern ein auswechselbarer Gesichtspunkt ist.« (Auw, 133) Diese »funktionale Äquivalenz« spielt in Luhmanns Theorie eine wichtige Rolle und begünstigte auch die zahlreichen interdisziplinären Schnittstellen. Ausgehend von der Differenz zu Parsons‘ Systemtheorie vollzog Luhmann seit den 1970er-Jahren einen grundlegenden Wandel in der Systemtheorie: die Umstellung auf das neue Paradigma der selbstreferenziell-geschlossenen, umweltoffenen Systeme.

      Mit Luhmanns Theorie ist die vorerst letzte Stufe in der Evolution der Allgemeinen Systemtheorie erreicht. Begonnen hatte sie mit der Unterscheidung Teil/Ganzes, auf die sich noch Emile Durkheim berief: Ein System wurde als geschlossene Ganzheit betrachtet, die aus mehreren Teilen zusammengesetzt ist. Es folgte die Unterscheidung System/Umwelt, maßgeblich ins Leben gerufen von dem Wiener Zoologen Ludwig von Bertalanffy (1901-1972), die Talcott Parsons dann strukturfunktionalistisch auslegte.

      Luhmann schließlich setzt auf das Primat von Funktion und Selbstreferenz, mit dem Ziel einer fachuniversalen Theorie, die den gesamten Gegenstandsbereich der Soziologie systemtheoretisch beschreibt – und doch hochgradig selbstreferenziell strukturiert ist.

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