Systemtheorie. Christian Schuldt
Читать онлайн книгу.vertraute Optik um. Aus systemtheoretischer Perspektive erscheint das Vertraute überraschend, wird das Alltägliche aufregend – und zugleich auf einem neuen, komplexeren Level plausibel. Man könnte Luhmann auch einen Theoriekünstler nennen, denn seine Beobachtung der Unwahrscheinlichkeiten im scheinbar Selbstverständlichen und des Vertrauten im scheinbar Abseitigen ähnelt der Funktion, die er selbst bei der Kunst beobachtet: eine plausible Präsentation anderer Realitäten.
So sind die Entzauberungen der Systemtheorie immer auch Wiederverzauberungen: Sie machen die alltäglichsten Dinge zu Mysterien, ohne sie zu mystifizieren. Und wahrscheinlich ist es dieser quasi künstlerische Sog, diese irgendwie schräge Weltsicht, die die Systemtheorie so attraktiv macht und sogar Suchtpotenzial entfalten kann. Wer einmal gelernt hat, seinen Hund als »biologisches System« zu beobachten oder die Liebe als »symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium«, läuft erhöhte Gefahr, systemtheoriesüchtig zu werden.
Nicht nett
»(Es gibt) nette, hilfsbereite Theorien und solche, die durch das Wahrscheinlichwerden des Unwahrscheinlichen fasziniert sind. Die erstgenannte Variante hat die Tradition für sich, die zweite drängt sich auf, sobald man explizit fragt, wie soziale Ordnung möglich ist.«
(Luhmann, »Soziale Systeme«, 164)
Dagegen erteilt Luhmann all jenen eine Absage, die sich ihre Weltbilder unter Titeln wie »Ich«, »Gefühl«, »Authentizität«, »Universum« etc. selbst malen, sowie allen, die sich hinter moralischen Schutzschildern nach einfachen Fundamentalismen sehnen. Durch die muffige Gemütlichkeit der Betroffenheitstempel weht die Systemtheorie als frische Brise aus Sachlichkeit und Skepsis. »Selbstverwirklichern« bietet sie die vielleicht einzig wirksame Therapie: Distanzierung und Selbstobjektivierung statt Engagement und Selbstsuche.
Eine Brücke zum Theoriepalast
Dieses Buch will eine ebenso lustvolle wie lehrreiche Lektüre bieten und die Komplexität der Systemtheorie so reduzieren, dass sie zugänglicher wird, ohne sie dabei zu trivialisieren. Es soll eine Brücke zu Luhmanns Theoriepalast geschlagen werden, die erfolgreiche Anschlusskommunikationen wahrscheinlicher macht – idealerweise die Originallektüre von Luhmann-Texten.
Das Setzen eines Anfangs ist dabei ebenso schwierig wie potenziell beliebig, schließlich gleicht Luhmanns Theoriedesign selbst einem komplexen Netzwerk. Die Systemtheorie baut zwar auf zentraleren und weniger zentralen Unterscheidungen auf, doch letztlich hängt alles mit allem zusammen und verweist ständig aufeinander. Auch dies ist ein Beleg dafür, dass die Systemtheorie auf der Höhe ihrer Zeit ist, denn ebenso komplex und paradoxal ist auch die Netzwerkgesellschaft des 21. Jahrhunderts strukturiert. Der hier gewählte Aufbau kann daher nur ein Kompromiss sein – aber immerhin einer mit »System«.
Zunächst geht es um eine Zentralfigur systemtheoretischen Denkens, Selbstreferenz: Ein kurzer Besuch im »Wunderland der Selbstreferenz« (S.15) ebnet den Weg für den folgenden Eintritt in das Labyrinth der Systemtheorie. Der »Grundriss des Labyrinths« (S.21) wird anhand der zentralen systemtheoretischen Begriffe und Grundannahmen vorgestellt. Zweien davon, Kommunikation und Beobachtung, ist jeweils ein Sonderkapitel gewidmet (S.45 und 53).
Der anschließende Vergleich der Systemtheorie mit ihren »Kontrahenten und Verbündeten« (S.57) dient dazu, das Verständnis der Theorie und ihres wissenschaftlichen Kontextes weiter zu schärfen. Ein weiteres Kapitel ist der Biografie und dem Wirken Niklas Luhmanns gewidmet: dem Zettelkastenmeister und »Kopf hinter der Theorie« (S.67).
Dann wird die Theorie in den Praxistest geschickt: Wie schlägt sich die Systemtheorie als »Theorie für alle Fälle« (S.77)? Die systemtheoretische Beobachtung von Liebe, Kunst und Massenmedien liefert aufschlussreiche Erkenntnisse, die auch dem generellen Theorieverständnis dienen.
Schließlich geht es um die Analysekraft der Systemtheorie für die Gegenwart und Zukunft der digitalisierten Gesellschaft: Was leistet Luhmanns Theorie als »Systemtheorie der Netzwerkgesellschaft« (S.99)?
2. Das Wunderland der Selbstreferenz
Der Eintritt ins Reich der Systemtheorie gleicht einem Eintritt in eine andere Dimension: Man betritt eine Art spiegelverkehrte Welt, ein Universum voller Paradoxien und Widersprüche. Das erfordert – und erzeugt – eine neue, andersartige Sicht der Dinge.
»Explosivstoff Selbstreferenz«
Um sich im Labyrinth der Systemtheorie zurechtfinden zu können, gilt es zunächst einmal vieles hinter sich zu lassen, was einem der Alltagsverstand antrainiert hat. Es ist ein bisschen so wie am Eingang zum Magischen Theater in Hesses »Steppenwolf«, an dessen Pforte der Hinweis prangt: »Eintritt kostet den Verstand.«
Vorsicht, explosiv!
»Die Systemtheorie (hat) den Explosivstoff Selbstreferenz in sich aufgenommen und (reicht) ihn als Kern des Systembegriffs an die Wissen-schaftstheorie weiter.«
(Luhmann, »Soziale Systeme«, 656)
Zum Glück kostet das Kennenlernen der Systemtheorie lediglich Konventionen – und schickt den Verstand zugleich auf ungeahnte Höhenflüge. Wer Angst hat vor intellektueller Überforderung und einem hochkomplexen Begriffssystem, sollte lieber draußen bleiben. Wem es aber gelingt, seinen alltäglichen Beobachtungsballast über Bord zu werfen und den Kopf frei zu machen für eine anfangs wenig Vertrauen erweckende Sichtweise, der kann sich faszinieren lassen von einer multifunktionalen Begriffskombinatorik und überraschenden, gestochen scharfen Beobachtungsmöglichkeiten. Es heißt also Abschied nehmen von vielem, was bislang im Bereich soziologischer Theorie stattfand, und sich einlassen auf einen neuartigen Zugang zu sozialen Phänomenen.
Das Zauberwort, das dieser systemtheoretischen Verbindung aus Fremdartigkeit und Faszination zu Grunde liegt, lautet »Selbstreferenz«. Das heißt zunächst nichts weiter, als dass es in Luhmanns Theorie um Systeme geht, die sich in all ihren Aktionen und Reaktionen selbst beschreiben. Das selbstbezügliche Grundmuster systemtheoretischen Denkens folgt aus dem anfangs schon erwähnten allumfassenden Anspruch der Theorie: Will sie alles Soziale in den Blick bekommen, muss sie zwangsläufig selbst Bestandteil der von ihr beobachteten Gesellschaft sein. Deshalb legt sie, anders als die meisten anderen Theorien, ihre eigenen Grundlagen, ihre eigene Perspektive offen.
Dieser offene Verweis auf das Sich-selbst-Miteinbeziehen führt schnell in zirkuläre Abgründe. Das veranschaulichen schon selbstreferenzielle Sätze wie »Dieser Satz ist nicht. Vollständig.« oder ».nesel os nhi nam edrüw ,hcsiärbeH fua ztaS reseid eräW«: Aussage und Form spiegeln sich wechselseitig, sodass ein geschlossener Verweisungszirkel entsteht. Noch deutlicher wird die Vertracktheit solcher Selbst-inklusionen im Falle von Paradoxien. Paradoxe Aussagen wie »Dieser Satz ist nicht selbstreferenziell« führen in die Unentscheidbarkeit: Sie enthalten zwei Werte, von denen jeder auf den anderen zurückverweist. Das Resultat ist ein unendliches Oszillieren zwischen den beiden Werten.
Paradoxie macht Sinn
»Auch ein Widerspruch, auch eine Paradoxie hat Sinn. Nur so ist Logik überhaupt möglich. Man würde sonst beim ersten besten Widerspruch in ein Sinnloch fallen und darin verschwinden.«
(Luhmann, »Soziale Systeme«, 138)
Dementsprechend eröffnet auch ein selbstreferenzielles Theorie-design paradoxale Teufelskreise: Die Systemtheorie liefert eine Beschreibung des Systems im System, eine sich selbst mitbeschreibende Beschreibung. Anders, sprich weniger komplex und paradoxal, kann sich eine universalistische Perspektive heute nicht mehr legitimieren. Daher kann die Luhmann-Lektüre mitunter einen ähnlichen Effekt auslösen wie das Betrachten eines Vexierbildes: Die Beobachtung flimmert hin und her, pendelt zwischen den Unterscheidungen.
Man kann dieses selbstreferenzielle Flimmern zelebrieren, indem man es immer weiter und weiter verfolgt. Das ist die Methode der Dekonstruktion (mehr zum Vergleich von Systemtheorie und Dekonstruktion im Kapitel »Kontrahenten und Verbündete«). Luhmann