Heideopfer. Kathrin Hanke

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Heideopfer - Kathrin Hanke


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Kloß verschwinden, der sich seit etwa 20 Minuten in ihrem Hals immer breiter machte.

      »Er ist im Anmarsch«, wisperte es von der Bürotür her. Es kam von Vivien Rimkus, die an der halb geöffneten Tür stand und den Kopf hinaus auf den Gang gesteckt hatte. Jetzt zog sie ihn zurück und drückte die Tür sachte zu. Die junge Kommissarin, mit der Katharina bis heute nicht richtig warm geworden war, hatte Tobi nach seinem schweren Unfall vor etwa drei Jahren in ihrem Dezernat ersetzt. Erst gestern Abend, kurz vor Feierabend, hatte sie sichtlich widerstrebend ihren Schreibtisch, der zuvor Tobis gewesen war, freigeräumt und war an einen eigens für sie in das Gemeinschaftsbüro gestellten neuen Schreibtisch umgezogen. Katharina ihrerseits hatte ihren Tisch mit der Stirnseite an Tobis alten herangeschoben, sodass sie ihm direkt gegenübersitzen würde. Zudem hatten sie das Büro mit einer Girlande, auf der »Herzlich Willkommen« stand, geschmückt. Heute Morgen hatte sie dann noch schnell vom Godehus, das in der Nähe des Bahnhofs Am Schützenplatz lag, jede Menge Franzbrötchen besorgt. Das Godehus befand sich zwar überhaupt nicht auf ihrem Weg zum Kommissariat, aber sie hatte den erheblichen Schlenker in den Bioladen gern in Kauf genommen. Franzbrötchen waren ihr und Tobis Lieblingsgebäck, und sie hoffte, er würde sich über die Geste freuen, denn er war es, der heute wieder seinen alten Platz im Kommissariat einnehmen würde, und sie wollte ihm einen schönen Wiedereinstieg bescheren.

      Bis vor einer Woche hatte Katharina noch gebangt, ob ihr Kollege Tobias Schneider überhaupt je wieder irgendwann soweit auf dem Damm war, um eingegliedert werden zu können. Die Zeit des Wartens und Hoffens war ihr zäh vorgekommen. Als Ben sie dann letzte Woche informiert hatte, dass Tobi heute endlich wiederkommen würde, war plötzlich alles ganz schnell gegangen. Und spätestens seit diesem Morgen war die Zeit wie im Flug an Katharina vorbeigedüst.

      Obwohl sie gestern spät im Bett gewesen war, hatte sie in der Nacht kaum schlafen können und sich eher hin und her gewälzt, bis sie dann um 5.45 Uhr aus dem Bett gekrochen war. Sie hatte ihre Joggingklamotten angezogen und war eine Runde gelaufen, um sich den Kopf durchpusten zu lassen. Es hatte nicht viel gebracht, sie war nach wie vor nervös wie ein Teenager vor seinem ersten Date gewesen. Wieder zu Hause war sie nicht wie sonst unter die Dusche gesprungen, sondern hatte ein ausgiebiges Bad genommen. Trotz der ätherischen Öle, die sie reichlich ins Wasser gegossen hatte, war die Entspannung nicht eingetreten. Irgendwann war Bene verschlafen im Bad erschienen. Er hatte nur einen kurzen Blick auf sie geworfen und war wieder verschwunden, um kurz darauf mit einem Pfefferminztee in der Hand wiederzukommen. Dankbar hatte sie ihn entgegengenommen. Bene wusste einfach, was ihr guttat. Sie waren inzwischen nach einigen Irrungen und Wirrungen knapp sieben Jahre zusammen und seit etwas über zwei Jahren lebten sie miteinander. Das allerdings auch nicht so wie normale Paare, sondern Tür an Tür oder besser Wohnung an Wohnung. Sie hatten lange nach einem Heim für sie beide gesucht, waren sich jedoch selbst bei den schönsten Wohnungen nicht einig gewesen, bis Katharina plötzlich gewusst hatte, woran dies lag. Die Erkenntnis war ihr an Tobis Krankenbett gekommen. Sie erinnerte sich noch gut an die Situation. Damals war Tobi gerade erst ein paar Wochen aus seinem Koma erwacht. Sie hatte ihm etwas aus der Zeitung vorgelesen, doch dann war er weggedämmert, und sie hatte ihren Gedanken nachgehangen. Sie hatte, wie so häufig in dieser Zeit, überlegt, wie schnell das Leben vorüber sein konnte. Von jetzt auf gleich. Und dass man jede einzelne Sekunde möglichst auskosten und so gestalten sollte, als wäre es die letzte. Später hatte sie Bene getroffen und ihm gesagt, dass sie nicht mit ihm zusammenziehen würde. Sie hatte ihm erklärt, sie wolle sich jeden Morgen beim Augenaufschlagen neu für ihn entscheiden, ohne, dass der Alltag in einer gemeinsamen Wohnung sie »auffräße«, ja, sie hatte von Auffressen gesprochen.

      Bene hatte sie in seine Arme gezogen und nichts weiter dazu gesagt als »ist gut«. Sie war erleichtert gewesen und hatte sich gleichzeitig gewundert, dass er keine Grundsatzdiskussion über ihre Partnerschaft anfing. Im Gegenteil war er auf sie eingegangen und hatte nach kurzer Überlegung den Vorschlag gemacht, nach zwei freien Wohnungen in einem Haus zu suchen. Tatsächlich waren sie einigermaßen schnell fündig geworden, und ihre Beziehung war seitdem besser als je zuvor. Obwohl in beiden Wohnungen ein Schlafzimmer war, verbrachten sie die Nächte bis auf wenige Ausnahmen gemeinsam – in der Regel bei Katharina. Sowieso waren sie meist bei ihr in der Wohnung. Nur wenn Bene für sich allein Saxofon spielen wollte oder sie wegen eines schwierigen Falles Zeit für sich brauchte und mal wieder »in ihrem Kopf« ihre Arbeit mit nach Hause brachte, wie Bene es nannte, ging er zu sich hinüber. Und genauso fühlte sich das Zusammenleben für Katharina gut an: Ihr reichte es, die Möglichkeit zu haben, sich zurückziehen zu können, ganz nach dem Motto: nichts müssen, nur wollen. Es war ein bisschen wie mit dem Meer. Sie fand den Gedanken schön, hier in Lüneburg in der Nähe von Nord- und Ostsee zu leben, dennoch fuhr sie nur selten hin.

      An der Tür klopfte es. Wieder sah Katharina zu Ben, der nur mit den Schultern zuckte. Sie wussten beide, dass es Tobi war, der da hinter der Tür stand. Früher wäre ihr Kollege einfach ohne Klopfen in ihr gemeinsames Büro hineingeschneit, aber in der Zwischenzeit war viel geschehen, vor allem für ihn …

      Ben räusperte sich, straffte seine Schultern und dann sagte er: »Komm rein!«

      Katharina wandte sich der Tür zu und beobachtete verkrampft, wie langsam – es kam ihr vor wie in Zeitlupe – die Türklinke heruntergedrückt wurde. Sie hatte sich ihre Begrüßungsworte in den letzten Tagen so schön zurechtgelegt, doch auf einmal kamen sie ihr hohl vor. Sie überlegte fieberhaft, was sie stattdessen zu Tobi sagen sollte, doch dann ging plötzlich alles ganz schnell. Bevor sie einen Entschluss gefasst hatte, stand Tobi in der geöffneten Tür und grinste schief in den Raum hinein. Er schien genauso verlegen und auch berührt wie sie und Ben. Der fing sich als Erster, trat auf Tobi zu, nahm ihn in den Arm, klopfte ihm auf die Schulter und meinte: »Hi, Kollege, du hast uns hier gefehlt!«

      »Und ihr mir erst«, erwiderte Tobias Schneider langsam. Er hatte sich aus Bens Umarmung gelöst und trat jetzt auf die Kommissarin zu. Katharina musste die aufkommenden Tränen unterdrücken. Sie war sich nicht sicher, ob sie vor Rührung, Glück oder Traurigkeit in ihr hochstiegen. Wahrscheinlich war es alles zusammen. Obwohl sie diesen Moment so sehr herbeigesehnt und sich immer wieder vorgestellt hatte, überrollte er sie jetzt. Tobi war endlich wieder da! Hier im Kommissariat, das er heute zum ersten Mal nach seinem schlimmen Unfall wieder betrat. Nachdem er damals aus dem Krankenhaus entlassen worden war und die Reha hinter sich gebracht hatte, hatten Ben und sie ihn immer wieder gefragt, ob er nicht einfach mal so vorbeikommen wolle. Doch Tobi hatte sich geweigert. »Ich werde erst zum Arbeiten wiederkommen, Kaffeetrinken können wir woanders«, hatte er dazu dann stets gesagt, und irgendwann hatten sie es gelassen, ihn zu fragen, und seine Antwort akzeptiert.

      Sie hatten ihn trotzdem regelmäßig getroffen. Nicht jedes Mal gemeinsam, sondern auch jeder für sich. Am Anfang war Jana, Tobis Freundin und Mutter seiner Tochter Mia, häufig dabei gewesen, doch gerade in letzter Zeit hatte diese die Treffen der Kollegen untereinander genutzt, um anderen Dingen nachzugehen. Natürlich lag das vor allem daran, dass es Tobi inzwischen deutlich besser ging und er wieder allein zurechtkam. Lange Zeit hatte das anders ausgesehen. Nach seinem Unfall war es noch nicht einmal klar gewesen, ob er überleben würde. Er war allein in seinem Wagen unterwegs gewesen und von einem anderen Auto angefahren worden, sodass sich seines überschlagen hatte. Sein Unfallgegner hatte Fahrerflucht begangen und Tobi einfach sich selbst überlassen. Erst Monate später hatten sie ihn und seine Begleiter durch einen Zufall stellen können, doch das half Tobi in jenem Moment herzlich wenig. Er hatte, direkt, nachdem er sich aus seinem zerquetschten Wagen befreien konnte, das Bewusstsein verloren und war für eine lange Zeit ins Koma gefallen. Und auch nachdem er wieder daraus erwacht war, stand nicht gleich fest, ob er vielleicht den Rest seines Lebens ein Pflegefall bleiben würde. Doch er hatte fleißig seine Therapien absolviert und sich tatsächlich soweit berappelt, dass er seine Motorik wieder im Griff hatte. Dennoch würde er nie wieder der Alte sein. Das wussten sie alle. Vor allem sein Sprachzentrum war durch die vom Unfall hervorgerufene Kopfverletzung in Mitleidenschaft gezogen worden, und noch immer suchte er häufig während eines Gesprächs nach den einfachsten Wörtern, sodass er trotz regelmäßiger logotherapeutischer Behandlung nur langsam sprach.

      »Schön, dass du wieder da bist«, flüsterte sie mit rauer Stimme in Tobis Ohr. Er hatte sie eben in den Arm genommen, so wie zuvor Ben ihn.

      »So


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