Heideopfer. Kathrin Hanke
Читать онлайн книгу.stellte er klar.
»Natürlich, wir passen schon auf«, bekam er zur Antwort, und Achim Brenner brummte zum dritten Mal an diesem Morgen.
Beim Schuppen angekommen, blickten sie in das verstörte Gesicht von Ingo – einem Hünen von Mann, der bis zum Hals tätowiert war und sich normalerweise nicht so schnell aus der Ruhe bringen ließ. Er arbeitete schon einige Jahre für Brenner, doch so durch den Wind hatte dieser ihn noch nie gesehen. Neben Ingo standen die anderen zwei Jungs, die er zum ersten Mal angeheuert hatte und die ihre Arbeit bisher gut gemacht hatten. Es waren Brüder, und auch sie waren käseweiß. Seine Männer nannten die beiden Lolek und Bolek, weil sie immer zusammen herumhingen und kaum ein Wort Deutsch sprachen – sie kamen zwar nicht aus Polen, sondern aus Litauen, aber das war für die Namensgebung egal.
»Was ist denn los?«, fragte Brenner.
»Das … ähm … also … guck es dir einfach an …«, stammelte Ingo.
Achim Brenner schwante nichts Gutes, als er jetzt, gefolgt von der Familie, näher an den nur noch halb vorhandenen Schuppen trat. In der Mitte prangte ein größeres Loch im Boden, das er zuvor nicht bemerkt hatte.
»Lolek und Bolek haben die Wände auseinandergenommen, und ich habe die Waschbetonplatten entfernt. Ich hab in der Mitte angefangen, weil hier schon einige lose waren, was mich … was mich jetzt nicht mehr wundert … und … ähm … vielleicht bleiben Sie mit den Kindern besser mal weg«, erklärte Ingo, der sich nicht von seinem Platz gerührt hatte.
»Ja, aber was ist denn da?«, fragte die Mutter, stoppte abrupt mitsamt den Kindern an ihrer Hand, stellte sich hinter ihre Kleinen und legte jedem schützend eine Hand auf die Brust.
Achim Brenner blieb ihr für den Moment eine Antwort schuldig. Stattdessen schluckte er. Dafür erwiderte ihr Mann neugierig: »Das werden wir gleich sehen.«
Er stellte sich neben Achim und senkte ebenfalls seinen Blick in das Loch. »Ach du Scheiße!«, platzte es aus ihm heraus, »Ist es das, was ich glaube?«
»Max, was ist denn da?«, fragte die Frau erneut, doch nach wie vor antwortete ihr niemand.
»Ich schätze schon«, meinte Achim Brenner an den jungen Mann gewandt. »Wir sollten die Polizei rufen.«
»Polizei? Wieso?«, drängelte sich jetzt doch die Frau zwischen die Männer. »Ich möchte jetzt endlich wissen, was da …« Sie stockte mitten in ihrem Satz, dann stieß sie einen kurzen, spitzen Schrei aus, deutete mit einem Finger auf das Loch und stammelte: »Das ist … das ist … eine Hand!«
10:23 Uhr
Das Telefon auf Bens Schreibtisch klingelte. Er erhob sich langsam vom Besprechungstisch und meinte zu den anderen: »Wenn da mal nicht die Arbeit ruft.«
Tobi grinste und sagte: »Ich habe mich schon gewundert. So ruhig war es hier selten.«
»Und es kann auch gern noch eine Weile so bleiben!«, kommentierte Katharina.
»Stimmt«, pflichtete Vivien ihr bei und begann, die leeren Teller und Becher zusammenzuräumen.
»Also ich habe lange genug nichts getan, ich bin nicht hier, um das so weiterzumachen«, meinte Tobi und sah zu Ben, der in diesem Augenblick sagte: »Ja, wir kommen. In 15 Minuten sind wir vor Ort.« Dann legte der Hauptkommissar auf, schaute seinen Kollegen an und erklärte: »Wenn wir Glück haben, sind wir in einer Stunde wieder hier und können weiter klönen, wenn nicht …«
»… dann tun wir mal wieder was für unser Geld«, vervollständigte Katharina seinen Satz und stand auf. »Was ist denn passiert?«
»Bei Bauarbeiten wurde in Wilschenbruch eine Hand gefunden, das heißt, nur noch die Handknochen«, informierte sie der Hauptkommissar. »Mehr weiß ich auch noch nicht.«
Nachdem Ben und Katharina das Büro verlassen hatten, ging Tobi an seinen Schreibtisch. Es war ein merkwürdiges Gefühl, nach all der Zeit wieder hier zu sein. Er hatte sich riesig auf diesen Tag gefreut, doch jetzt fragte er sich, ob sein Wiedereinstieg nicht doch zu früh kam. Noch immer suchte er in seinem Kopf nach den einfachsten Begriffen, wenn er etwas sagen wollte. Dabei wusste er den Inhalt meist ganz genau, doch die Worte wollten dann einfach nicht aus seinem Mund heraus. Natürlich kannte er das schon von früher, vor diesem verflixten Unfall. Wie wohl jedem hatte ihm auch hin und wieder etwas auf der Zunge gelegen, aber jetzt geschah es eben nicht nur manchmal, sondern ziemlich häufig. So hatte er sich immer Alzheimer vorgestellt. Langsam aber sicher verlor man die Worte bis hin zum Gedächtnis und lebte nur noch in frühesten Erinnerungen. Gerade neulich hatte er sich den Film Der seltsame Fall des Benjamin Button angeschaut. Er hatte ihn irgendwann am Anfang der 2000er, als er herauskam, mit seiner damaligen Flamme im Kino angesehen. Mit der Frau verband ihn längst nichts mehr, sie hatten sich nur ein paar Mal getroffen, aber der Film hatte ihn fasziniert – was für eine irre Vorstellung, dass die biologische Uhr rückwärts ticken könnte. Bei ihm war es jedoch sein Geist, der sich durch seine schwere Kopfverletzung erst einmal in 1000 Einzelteile zerlegt hatte und langsam wieder zusammengesetzt werden musste. Von ihm. Ganz allein. Mittlerweile konnte er Sudokus nahezu im Schlaf lösen und las, trotz Netflix, ein Buch innerhalb von drei Tagen aus. Außerdem ging er weite Strecken zu Fuß, denn auch das regte das Gehirn an. Alles Dinge, die er zuvor nicht getan hatte, aber er hatte sich daran gewöhnt. Inzwischen tat er all dies ganz gern – es war ja für einen guten Zweck, wie Jana es einmal lachend gesagt hatte. Was ihm jedoch nach wie vor schwerfiel war seine Ernährungsumstellung. Schon als Kind aß er für sein Leben gern und später dann am liebsten Junkfood. Seit er mit Jana zusammen war, war er nicht mehr zu jeder Mahlzeit in diesen Genuss gekommen, aber vor allem in den Mittagspausen hatte er sich oft eine Currywurst oder ein halbes Hähnchen mit richtig schön vor Fett triefenden Pommes gegönnt. Und die zwei bis drei Teilchen vom Bäcker morgens vor der Arbeit waren für ihn gewesen wie für Katharina der Kaffee, den sie literweise in sich hineinkippte. Dass Katharina vorhin die Franzbrötchen auf den Tisch gezaubert hatte, hatte ihn deswegen ziemlich gefreut. Und dass sie extra Bio-Vollkorn-Franzbrötchen besorgt hatte, hatte er richtig süß von ihr gefunden, denn sie kannte seinen neuen Ernährungsplan. Vor allem Weißmehl war verboten. Ansonsten standen viel Obst, Gemüse, Fisch und Olivenöl auf seinem Speiseplan. Dennoch blieb da dieses Ding mit den Worten.
Zu Hause, bei Jana, war es nicht ganz so schlimm. Sein Therapeut meinte, das läge daran, weil er sich von Jana so angenommen fühlte, wie er war, denn schließlich hätte sein Unfall nicht seinen Charakter verändert. Tobi war sich da allerdings nicht sicher. Natürlich, anderen außer Jana gegenüber hatte er immer schon den Kasper gespielt. Na ja, am Anfang ihrer Beziehung ebenfalls vor Jana, und gespielt war auch irgendwie nicht richtig. Er hatte einfach stets das Glas mindestens halb voll gesehen und war grundsätzlich gut drauf gewesen. Der Unfall hatte das geändert. Seitdem hatte er sich mit Anflügen von Depressionen herumzuschlagen. Das war auch der Grund, weswegen er bereits jetzt schon in den Beruf zurückgekehrt war. Die Ärzte hätten ihn auch weiterhin lieber daheim gelassen oder gar berufsunfähig geschrieben. Doch das hatte er absolut nicht gewollt. Zu Hause fiel ihm die Decke auf den Kopf, zumal Jana voll arbeitete, seit er nicht mehr so pflegebedürftig war. Natürlich war da seine süße Mia. Seine Tochter war letzten Monat fünf Jahre alt geworden, aber sie wirkte schon sehr viel älter und reifer. Das war kein Wunder, nach dem, was sie in ihren ersten Lebensjahren zusammen mit ihrer Mutter seinetwegen hatte durchstehen müssen. Mia ging jedoch in den Kindergarten, und so hatte er sich größtenteils allein die Zeit vertreiben müssen – inzwischen hatte er wohl alle Serien, die es auf Netflix & Co gab, durchgeguckt – bis er seine Tochter um 15:30 Uhr wieder abholte. Das würde er auch weiterhin tun, da er vorerst nur in Teilzeit im Kommissariat arbeiten würde.
Eben am Besprechungstisch hatten sie noch einmal darüber gesprochen. Er und Vivien würden sich den Innendienst aufteilen – wobei sie ihm zuarbeiten sollte. Und wenn Katharina im Urlaub oder krank war, sollte Tobi sie vertreten. Das hatte Ben ihnen allen vorhin bei Franzbrötchen und Kaffee so verkündet. Tobi war das unangenehm. Er wusste, dass Vivien während seiner Abwesenheit den Innendienst allein geschmissen hatte und auch manchmal mit draußen gewesen war. Für sie bedeutete die neue Regelung durch seinen Wiedereinstieg eine Degradierung. Ihm war bewusst, dass Ben so entschieden