Heideopfer. Kathrin Hanke
Читать онлайн книгу.in ihrem Kommissariat ausgeholfen hatte. Erst als klar war, dass Tobi für längere Zeit ausfallen würde, hatte Kriminalrat Mausner – wohl auch auf Viviens Wunsch hin, wie Katharina mal hatte durchblicken lassen – ihrem offiziellen Wechsel von der Sitte hin zum Morddezernat zugestimmt.
Tobi schaute von seinem Platz aus zu ihr hinüber. Sie saß ebenfalls an ihrem Schreibtisch und schien ihn die ganze Zeit beobachtet zu haben, denn wie er tat auch sie nichts und sah ihn an. Für einen Moment herrschte Stille, dann fragte sie: »Und, wie fühlt es sich an, wieder hier zu sein?«
»Weiß noch nicht«, gab er ehrlich zu. »Irgendwie vertraut und dann doch wieder nicht.«
»Hm«, machte Vivien, und er merkte mehr an ihrer Körperhaltung als an ihrem »hm«, dass auch für sie die Situation mit ihm im Büro komisch war.
»Ich denke, wir werden das Kind schon schaukeln, oder?«, meinte er entgegenkommend und setzte noch ein »gemeinsam« hinzu.
»Das hoffe ich«, erwiderte Vivien, aber es klang nicht zickig, sondern eher frustriert.
»Wie meinst du das?«, fragte er nach und stellte eine Vermutung an: »Hast du Angst um deinen Platz hier?«
»Na ja«, sagte sie langsam. Dann gab sie zu: »Etwas schon. Immerhin bist du jetzt wieder da, und ich habe dich nur so lange ersetzt, bis du wieder arbeiten kannst. Das wurde mir von Anfang an gesagt.«
Tobi lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, dann sagte er bedächtig: »Ich glaube nicht, dass du dir Sorgen machen musst. Also ich mache dir auf keinen Fall deinen Platz hier im Team streitig. Außerdem waren wir schon zu meiner Zeit immer zu wenige. Das wirst du sicher in den letzten Jahren gemerkt haben und schon davor. Nicht umsonst haben wir uns dich damals aus deinem Ex-Kommissariat ausgeliehen. … Okay, ich weiß auch, dass Ben lieber ein kleines festes Team hat. Das war schon immer so. Obwohl das ja nicht gerade üblich ist, aber irgendwie hat er damals, als er die Leitung vom Morddezernat übernommen hat, unseren Kriminalrat überzeugen können. Außerdem ist Ben der fairste Typ, den ich kenne. Wenn er dich nicht mehr im Team haben wollen würde, hätte er es dir in dem Moment gesagt, als klar war, dass ich wiederkomme. Und mal so ganz nebenbei: Du hast dich doch hier ganz gut bewährt, soweit ich weiß …«
»Hat Ben das gesagt?«, wollte Vivien, mit einem Mal nicht mehr ganz so mutlos, wissen.
»Ja, der auch, aber eher Katharina.«
»Katharina?«, war die junge Kommissarin überrascht.
Tobi nickte: »Sie scheint große Stücke auf dich zu halten. Schon allein deshalb würde Ben dich nicht vor unsere Kommissariatstür setzen. Er vertraut Katharina sehr.«
»Das hätte ich nicht gedacht«, meinte Vivien gedankenvoll.
»Dass Ben auf Katharinas Urteil hört?«
»Nein, dass sie … dass sie mich, also meine Arbeit, schätzt.«
»Echt nicht«, wunderte Tobi sich laut. Gestand dann jedoch ein: »Okay, Katharina ist nicht gerade jemand, der mit Lob um sich schmeißt, aber doch, sie hat es mir gegenüber ein paar Mal erwähnt.«
Plötzlich wirkte Viviens Gesicht viel entspannter als zuvor und auch etwas glücklicher, wenn er sich nicht täuschte und der Kommissar beschloss, das Thema nun ruhen zu lassen. Mit den Worten: »So, und jetzt lass mal etwas arbeiten, du weißt ja, um 15 Uhr ist hier Abflug für mich und bis dahin sollten wir was geschafft haben«, schaltete er seinen Computer an, und als der Bildschirm daraufhin den blauen Desktop zeigte, spürte auch Tobi so etwas wie Glück. Mannomann, was hatte er seine Arbeit vermisst.
Vivien tat es ihm gleich, merkte jedoch an: »In den letzten Tagen war es relativ ruhig. Ich hatte sogar Zeit, alle Protokolle zu schreiben, die anlagen, deswegen haben wir eigentlich momentan nichts zu tun.«
»Dann sollten wir uns darauf vorbereiten, was Ben und Katharina vielleicht nachher für uns haben, und selbst, wenn es kein Fall ist, vertreiben wir uns dadurch die Zeit mit Sinnvollem«, antwortete er voll Elan, denn ihm war ein Gedanke gekommen.
»Und wie?«, fragte Vivien.
»Du fragst jetzt mal bei Katharina an, wo genau die im Wilschenbruch sind, um dann zu recherchieren, wer dort wann alles gelebt hat, und ich suche mir mal eine alte Akte raus.«
»Okay, mach ich. Aber in was für eine Akte willst du gucken?«
»Wenn ich mich recht entsinne, wurde vor ein paar Jahren ein Totenschädel in der Ilmenau gefunden. Wer weiß, vielleicht gehören die Handknochen dazu.«
Gedicht
»Dass wir erschraken, da du starbst, nein,
dass dein starker Tod uns dunkel unterbrach,
das Bisdahin abreißend vom Seither:
das geht uns an; das einzuordnen wird
die Arbeit sein, die wir mit allem tun.«
(aus Requiem für Paula Modersohn-Becker, Rainer Maria Rilke)
Kapitel 2
Montag, 09.03.2020 –
Vormittag bis zum Abend
10:36 Uhr
Kurz nachdem Katharina von Hagemann und Benjamin Rehder in den Dienstwagen eingestiegen waren, war der Kommissarin eingefallen, dass die Rechtsmedizinerin Frauke Bostel sicher auch nach Wilschenbruch gerufen worden war. Die beiden Frauen waren befreundet, von daher wusste sie, dass Frauke Bostel derzeit in ihrer Mobilität eingeschränkt war – die Rechtsmedizinerin hatte sich beim Skilaufen den Meniskus verletzt und einen Kreuzbandriss zugezogen. Sie war zwar schon vor einiger Zeit operiert worden, war aber noch nicht soweit wieder hergestellt, dass sie Fahrrad oder wenigstens Auto fahren konnte, zumal dies keine Automatik besaß. Natürlich würde Frauke sich ein Taxi rufen können, dennoch hatte Katharina ihrer Freundin und Kollegin kurzerhand eine Nachricht geschickt und gefragt, ob Ben und sie sie einsammeln sollten. Eben gerade hatte Frauke ihr mit einem »Daumen hoch« geantwortet.
»Ben, machst du bitte noch einen Schlenker zur Rechtsmedizin«, bat Katharina deshalb nun ihren Chef, der am Steuer saß.
»Um Frauke abzuholen?«
»Du hast eine hervorragende Kombinationsgabe, dein Beruf passt perfekt zu dir«, lachte Katharina auf.
Auch Ben grinste. Er fragte: »Wie lange ist sie denn noch lahmgelegt?«
»Keine Ahnung, sicherlich noch ein paar Wochen. Sie kann ihr Knie noch nicht richtig anwinkeln.«
»Gehst du jetzt immer alleine zum Sport?« Es war allgemein bekannt, dass die beiden Kolleginnen zusammen diverse Kurse in einem Fitnessklub besuchten. Unlängst hatten sie ihn sogar gewechselt und waren jetzt im Olympic Fitness. Das Olympic, wie es die Lüneburger kurz nannten, lag zwar nicht so zentral in der Stadt wie ihr vorheriger Klub, dafür bot er eine enorm große Auswahl an Kursen, war ziemlich modern und dabei vor allem günstig. Gerade neulich hatte Katharina lachend zu ihrem Freund Bene gesagt: »Falls ich mir meine Wasserrechnung nicht mehr leisten kann, dann gehe ich jeden Tag einfach im Olympic duschen. Da ist das Wasser im Mitgliedspreis inbegriffen.«
»Ich war in der letzten Zeit nur ein paar Mal im Klub. Ohne Frauke macht das dort nur halb so viel Spaß. Dafür jogge ich jetzt wieder regelmäßig. Am Wochenende übrigens auch gern mal im Wilschenbruch«, sagte sie jetzt zu Ben und musterte ihn von der Seite. Er war Bene wie aus dem Gesicht geschnitten, was kein Wunder war, da die beiden eineiige Zwillinge waren.
»Oh, dann sag mal Bescheid, ich wollte auch wieder mit Joggen anfangen, ich habe meine Fitness in der letzten Zeit etwas vernachlässigt«, meinte nun Ben, der gerade bei der Rechtsmedizin vorfuhr, wo Frauke bereits auf sie wartete, sodass Katharina einer Antwort entbunden wurde. Dass ihr Kollege seit einigen Monaten nichts für seinen Körper getan hatte, war unübersehbar – sein Bauchansatz sprach da Bände, und gerade neulich hatte Katharina gedacht, dass er im Gegensatz zu früher recht grau im Gesicht war. Joggen täte ihm also sicher gut, und sie hatte im Grunde nichts dagegen,