Heideopfer. Kathrin Hanke
Читать онлайн книгу.doch«, antwortete Katharina, »brauchst du dabei Hilfe?«
»Nee, lass mal«, wiegelte die Rechtsmedizinerin ab. »Ich warte auf die Spusi. Die können mir das Teil da schön vorsichtig ausbuddeln, und dann untersuche ich es im Institut.«
Als hätte sie ihn mit ihren Worten herbeigerufen, hörten sie plötzlich die Stimme von Patrick Peters hinter sich: »Habe ich da Spusi gehört? Wir sind eben angekommen. Was gibt es hier?«
Ben machte ihm Platz, sodass auch der Leiter der Spurensicherung in das Loch blicken konnte.
»Oh, alles klar, dann weiß ich Bescheid. Sieht ja nicht mehr ganz so frisch aus. Wisst ihr, ob da noch etwas dranhängt?«, fragte Peters, der noch nicht lange seinen Posten in Lüneburg innehatte, durch seine offene Art jedoch bereits bei allen bekannt und als Kollege beliebt war.
»Das herauszufinden, überlassen wir dir und deinem Team. Ich für meinen Teil werde jetzt einen der jungen Kollegen bitten, mich zurückzubringen, und dann lege ich die Beine hoch, bis ihr mir was bringt. Dieses Rumgestehe ist gerade nicht wirklich angenehm«, sagte Frauke.
»Okay«, erwiderte der Spusi-Mann, während sein Blick auf der Orthese an ihrem Bein ruhte. »Meniskus?«.
»Unter anderem. Nimm noch einen Kreuzbandriss und Knorpelschaden dazu, dann ist es komplett«, antwortete Frauke und verzog ihr Gesicht.
»Oh Mann, da möchte ich nicht mit dir tauschen. Skiunfall?«
»Und was für einer! Jetzt will ich aber nicht mehr darüber reden, denn selbst das tut weh. Wir sehen uns, haltet mich auf dem Laufenden«, antwortete die Rechtsmedizinerin und hüpfte auf ihren Krücken davon.
»Und wir befragen mal die Leute hier, dann stehen wir euch auch nicht im Weg herum«, entschied Ben.
11:57 Uhr
»Ha, da hab ich’s«, rief Tobi freudig in den Raum.
»Was hast du?«, fragte Vivien. Sie und Tobi hatten nach ihrem kurzen Gespräch am frühen Vormittag kaum mehr ein Wort miteinander gewechselt. Beide hatten sich jeweils auf ihre Computer konzentriert, um zu recherchieren, ob es irgendetwas gab, das sie im Fall des Knochenfunds im Wilschenbruch weiterbringen könnte. Ob es tatsächlich ein Fall war, würden sie jedoch erst wissen, wenn Katharina und Ben zurück im Büro waren.
»Na, diese Sache mit dem Schädel in der Ilmenau. Wahnsinn, das war schon 2014, ich hatte gedacht, es sei später gewesen«, sagte Tobi, ohne seinen Blick vom Computerbildschirm abzuwenden.
»Erzähl mal genau«, forderte Vivien ihn gespannt auf.
»Also, die Ilmenau, oder nein, ihr Flussbett, wird ja jedes Jahr gesäubert«, begann Tobi und Vivien machte ein zustimmendes »hmhm« als Zeichen, dass sie dies auch als Zugezogene aus Kassel wusste.
Tobi fuhr fort: »Ja, und da haben die damals im Abschnitt zwischen Abts- und Ratsmühle, das heißt irgendwo an der Altenbrückertorstraße, einen menschlichen Schädel im Schlick gefunden.«
»Schädel, nein, es wurde eine Hand gefunden, ob da auch ein Schädel dranhängt, wissen wir noch nicht«, unterbrach die Stimme von Katharina den Kommissar. Sie und Ben waren eben eingetreten.
»Hi, das ging aber schnell, ich hätte gedacht, ihr seid länger weg«, begrüßte Tobi die beiden Kollegen.
»Na, immerhin hattest du knapp eineinhalb Stunden Ruhe von uns«, neckte Katharina ihn.
»Zeit genug, um ein bisschen was herauszufinden«, sagte Tobi.
»Dann seid ihr besser als wir«, schaltete sich jetzt Ben ein. »Wie gesagt, wir wissen noch nichts Genaues über den Fund. Patrick ist mit seinen Leuten im Moment vor Ort und spielt den Archäologen. Mal sehen, was die zutage fördern. Vielleicht bleibt es nur bei der Hand, vielleicht nicht.«
»Patrick?«, hakte Tobi nach.
»Patrick Peters. Entschuldige, ich hab vergessen, dass du ihn noch nicht kennst. Er ist der neue Leiter der Spurensicherung. Guter Mann«, informierte Benjamin Rehder ihn.
»Stimmt, ich glaube, ihr habt ihn einmal erwähnt«, antwortete Tobi. Dann fuhr er fort: »Erinnert ihr euch noch an den Schädelfund in der Ilmenau vor ein paar Jahren? Ich habe gerade Vivien davon erzählt.«
»Ja, jetzt, wo du es sagst … Wir wurden doch auch dorthin gerufen, aber dann hat ein anderes Dezernat den Fall übernommen, oder?«, erinnerte sich Katharina, und auch Ben nickte.
»Ja, stimmt. Die Kollegen haben damals in der Nähe des Schädels noch irgendeine Klamotte gefunden, was für eine, das stand nicht in den Akten, und sie konnte auch dem Schädel nicht zugeordnet werden. Na ja, ihr wisst ja, was die sonst auch noch jedes Jahr bei der Aktion in unserem schönen Flüsschen finden. Fahrräder oder auch Kühlschränke sind da keine Seltenheit. Darum sind die Kollegen seinerzeit wohl auch nicht näher auf das gefundene Kleidungsstück eingegangen. Sie haben auch noch andere Knochenfragmente gefunden. Die waren jedoch von Tieren. Der Schädel war aber eindeutig menschlich. Wer weiß, vielleicht gehört er ja zu der Hand aus Wilschenbruch. Auf jeden Fall konnte nicht geklärt werden, zu wem er gehört. Es war auch kein Vermisstenfall bekannt, zu dem der Fund passte, abgesehen davon, dass auch nicht herausgefunden werden konnte, ob der Schädel zu einer Frau oder einem Mann gehört hatte. Genauso war auch nicht klar, ob ein Verbrechen oder Suizid vorlag, denn der Schädel hatte keine Verletzungen. Einige vermuteten sogar in ihm eine Theaterrequisite, oder dass Schüler das gute Stück aus dem Biologieunterricht mitgehen ließen und in der Ilmenau versenkt haben, wobei hier in der Gegend wohl kein echter Schädel irgendwo fehlte. Meistens sind die ja auch sowieso nachgemacht … Die Aufräumarbeiten haben allerdings um Halloween stattgefunden. Darum hielt sich das Gerücht, dass sich einfach jemand einen üblen Scherz erlaubt und den Schädel kurz zuvor ins Wasser geworfen hatte.« Puh, so viel am Stück hatte Tobi lange nicht mehr gesprochen, aber zu seiner eigenen Überraschung war es ganz gut gegangen, und er war gar nicht so häufig ins Stocken geraten.
»Ach, die Diskussion wegen Halloween und dass er auch aus irgendeinem Fundus stammen könnte, habe ich damals gar nicht mitbekommen«, sagte Katharina interessiert. »Ich frag Frauke da mal, die wird ja ihre Unterlagen dazu noch haben.«
»Da bin ich mir nicht so sicher«, legte Tobi seine Stirn zweifelnd in Falten. »Die rechtsmedizinischen Untersuchungen sind damals in Hamburg gemacht worden. Ich schätze mal, weil unsere Frau Doktor keine Kapazität mehr hatte und das Institut für Rechtsmedizin in Hamburg ja sowieso für unseren Kreis zuständig und unsere Lüneburger Rechtsmedizin nur eine kleine Außenstelle ist.«
»Na, das mit dem klein lass mal Frauke nicht hören«, griente Ben, und auch Tobi musste grinsen, denn sein Chef hatte recht: die Lüneburger Rechtsmedizinerin fand es seit jeher überflüssig, dass das Institut in Hamburg ihr vorgesetzt war, da sie sowieso eigenständig arbeitete. Dies wiederum lag nicht zuletzt an der Tatsache, dass man ihren Fähigkeiten in Hamburg mehr als vertraute, und so hatte sie im Grunde alle Freiheiten, die sie sich auch nahm. Nichtsdestotrotz musste sie regelmäßig an die Hamburger berichten.
»Aber du hast recht, Katharina, frag Frauke trotzdem. Vielleicht kann sie ja in Hamburg mal nach deren Unterlagen fragen. Unsere Kollegen haben den Fall damals zumindest schnell zu den Akten gelegt, wenn ich mich richtig entsinne.«
»Gute Vorarbeit, Tobi, danke. Wer weiß, vielleicht hat ja tatsächlich das eine mit dem anderen zu tun, wir werden sehen«, lobte Ben und ging einen Schritt in Richtung seines Büros, doch Tobi hielt ihn auf: »Warte noch, Ben. Ich glaube, Vivien hat auch was für euch, oder?« Zwar hatte Vivien ihm eben nichts dazu gesagt, aber sie hatte wie er ebenfalls die ganze Zeit an ihrem Computer gesessen und sich zwischendurch immer wieder Notizen gemacht. Natürlich hätte sie sich auch von allein zu Wort melden können, aber er wollte ihr und auch Ben und Katharina zeigen, dass er Viviens Arbeit ernst nahm und sie nicht in Konkurrenz zueinander standen, sondern Hand in Hand arbeiteten.
»Ja, ich hab etwas«, meinte Vivien und warf Tobi einen herzlichen Blick zu. »Ich hab mal recherchiert, wer so in den letzten Jahrzehnten in dem Haus gewohnt hat beziehungsweise wem es gehört, aber vielleicht wisst ihr das ja schon?«