Der belogene Patient. Falk Stirkat
Читать онлайн книгу.beschwichtigen und erklärte, wir wären auf das, was da komme, vorbereitet. Ein guter Freund, seines Zeichens Risikoanalyst und Arzt, erzählte uns später, unsere Blindheit der Gefahr gegenüber sei das Resultat eines eklatanten Mangels an statistischem Vorstellungsvermögen, der viele Mediziner beträfe. Wir sähen immer nur den individuellen Fall und es fiele uns schwer, von dieser einmaligen Erfahrung nicht auf das große Ganze zu schließen. Vermutlich hatte er recht.
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PANDEMIE
Bei einer Pandemie handelt es sich um eine Infektionskrankheit, die sich über alle Länder und Kontinente hinweg ausbreitet. Im Gegensatz zu einer Epidemie, die örtlich begrenzt auftritt, kümmert sich die Krankheit bei einer Pandemie nicht um Landesgrenzen und der Erreger breitet sich auf der ganzen Welt aus.
Weil Krankheiten nicht einfach vom Himmel fallen, gehen Wissenschaftler davon aus, dass es sich bei pandemischen Erregern um Mikroorgansimen handeln muss, die vom Tier auf den Menschen übertragen werden. Man spricht von sogenannten Zoonosen. Pandemisches Potenzial besitzt ein Erreger dann, wenn er plötzlich, meist bedingt durch eine spontane Änderung des Erbgutes (einer sogenannten Mutation), in der Lage ist, von Mensch zu Mensch zu wandern. Für die Entwicklung einer Pandemie bedarf es noch weiterer unabdingbarer Voraussetzungen:
Der Erreger muss hoch ansteckend sein.
Die Infizierten müssen lange genug am Leben bleiben, um ihrerseits weitere Menschen anzustecken und davon möglichst viele.
Außerdem ist es enorm praktisch für den Erreger, wenn die Übertragungswege unter normalen Bedingungen funktionieren, wenn er also über die Luft zwischen den Betroffenen hin und her springen kann. Nur so kann ein exponentielles Wachstum erreicht werden, das zum sprunghaften Anstieg der Infiziertenzahlen führt.
Auch wenn bei einer Pandemie nicht alle Infizierten zu Patienten werden – schon ein verhältnismäßig geringer Anteil an schwer Erkrankten kann im Falle einer explosionsartigen Ausbreitung des Erregers zur Überlastung der Gesundheitssysteme führen.
Weltuntergangsstimmung wegen eines »Schnupfens«?
So machten wir uns Ende Januar 2020 also über das Virus mit dem merkwürdigen Namen lustig und die medizinisch etwas Bewanderten unter uns konnten sich nicht erklären, weshalb vonseiten der Medien so viel Aufhebens betrieben wurde. Coronaviren, das wussten wir noch vom Studium, gehörten neben anderen Biestern, wie beispielsweise den Rhinoviren, zu den klassischen Verursachern milder »grippaler« Infekte. Wir hatten die letzten Jahre damit verbracht, Patienten die Harmlosigkeit einer derartigen Infektion zu erklären und immer wieder auf den eklatanten Unterschied zur echten Grippe, also der Virusinfluenza, hinzuweisen. Und plötzlich herrschte in China Weltuntergangsstimmung nur wegen eines »Schnupfens«.
Etwas mulmig wurde uns allerding schon ob der Bilder, die zunehmend zu uns herüberschwappten. Ganze Städte wurden abgesperrt, Menschen in Schutzanzügen liefen durch verlassene U-Bahn-Stationen und desinfizierten jeden Millimeter. Und all das wegen eines simplen grippalen Infektes? Nach und nach kamen in uns und einigen Kollegen Zweifel auf. Was sollte das denn? Die Chinesen waren nicht unbedingt für Überreaktionen bekannt und auch, dass sie eben mal so ihre eigene Wirtschaft herunterfuhren, schien doch sehr verdächtig. War also doch was dran am Coronavirus? Nach und nach wurde das Thema immer prominenter in den Medien platziert und es gab erste Berichte von Fällen außerhalb Wuhans und dann auch außerhalb Chinas. Und weil sich immer noch keiner so richtig erklären konnte, weshalb Fabriken geschlossen und das öffentliche Leben heruntergefahren wurde, passierte das, was passieren musste: Es kamen Verschwörungstheorien auf. Was wusste die chinesische Regierung über den Erreger? War es vielleicht doch ein missglücktes Experiment aus den Biotech-Laboren von Wuhan? Steckte mehr dahinter als eine normale Grippe?
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VIRUS
Unter einem Virus verstehen Wissenschaftler und Mediziner eine organische Struktur, die selbst aber keine Zelle ist und nicht lebt. Schon allein an dieser Beschreibung merkt man, dass wir es bei Viren mit einem hochinteressanten Objekt zu tun haben. Allen Viren gemein ist die Abhängigkeit von einer sogenannten Wirtszelle. Denn nur durch die Nutzung echter, lebender Zellen können Viren sich vermehren. Das gefällt den Betroffenen verständlicherweise gar nicht. Und so kommt es meist zu einer starken Immunantwort, weil der Körper den Eindringling erkennt und versucht, ihn unschädlich zu machen. Man bekommt Fieber und fühlt sich eine Zeit lang nicht besonders gut. In seltenen Fällen gelingt es dem Virus, der Immunantwort zu trotzen – dann wird der Befallene richtig krank.
Die Art und Weise, wie Viren andere Zellen nutzen, um sich selbst am Leben zu erhalten, ist faszinierend. Dabei docken sie an der Zellmembran der Wirtszelle an und schleusen das eigene Genmaterial in deren Inneres. Diese RNA oder DNA (je nach Virustyp) wird dann von der befallenen Zelle behandelt wie das eigene Genmaterial. Denn es enthält den Bauplan zur Produktion weiterer Viruspartikel. Die befallene Zelle wird also gekapert und zur Virenproduktionsstelle umfunktioniert. Sind genug Kopien des Ursprungsvirus angefertigt worden, platzt die Zelle förmlich und entlässt Tausende und Abertausende neuer Viren in den Körper. Die greifen ihrerseits wieder gesunde Zellen an und funktionieren auch diese zu Virenproduktionsfirmen um.
Es entsteht ein richtiger Teufelskreis, denn eine infizierte Zelle führt zu hunderten, ja tausenden neuen Virenpartikeln. Die berühmte exponentielle Vermehrung findet also schon im Kleinen – im Vermehrungszyklus des Virus – statt.
Katastrophe mit Ansage
Es ist im Nachhinein spannend zu analysieren, wie schnell es zu derartigen Falschmeldungen kommt und wie leicht selbst viele Ärzte die Wahrheit verkennen können, schlicht weil ihnen das nötige Wissen fehlt. Kaum ein Mediziner hätte sich eine derart pandemische Ausbreitung vorstellen können, selbst der Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI) musste auf einer Pressekonferenz im März zugeben, dass das Ausmaß dessen, was auf uns zukommen sollte, auch seine Vorstellung komplett übertraf. Obwohl genau dieses Szenario schon acht Jahre zuvor in einem Risikobericht als ernste Bedrohung für die nationale Sicherheit durchgespielt worden war (siehe Kasten >), wollten viele lieber an die große Verschwörung glauben, anstatt der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Schon relativ früh im Verlauf des Ausbruchs der Corona-Pandemie war klar, dass es sich weder um eine biotechnisch generierte Waffe noch um einen Erreger mit deutlich schlimmeren Eigenschaften, die man vor uns zu verheimlichen versuchte, handelte. Später konnte man die wirre Labor-Theorie dann auch auf Grundlage genetischer Analysen widerlegen.
Ein Sturm ungeahnten Ausmaßes
Auch als es Anfang Februar plötzlich zu einigen Fällen in Deutschland kam, konnte sich fast niemand das wahre Ausmaß des aufziehenden Sturms vorstellen. Mitarbeiter einer Münchener Firma hatten sich bei einem Meeting mit chinesischen Kollegen infiziert. Es handelte sich aber lediglich um einen winzigen Ausbruch des Krankheitsgeschehens. Im Nachhinein wurde diese verhältnismäßig kleine Gruppe, bestehend aus 14 Infizierten, auch als »Münchener Kohorte« bekannt. An diesem Punkt der sich entwickelnden Pandemie wäre es vermutlich noch möglich gewesen, Schlimmeres zu verhindern – allerdings konnte keiner ahnen, wie sich alles entwickeln sollte – niemand hatte derartiges schon einmal erlebt. Und so tappten wir allesamt blind in die Katastrophe. Der deutsche Gesundheitsminister, der, nachdem er den Ernst der Lage erkannt hatte, relativ konsequent handelte, machte sich eher über Verschwörungstheorien Gedanken, als dass ihn die Situation zu beunruhigen schien. Auch das bayrische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit sowie das Robert Koch-Institut schätzten die Gefahr damals als »eher gering« ein. Ein fataler Irrtum. Denn obwohl man die Patienten der Münchener Kohorte recht gut isolieren und deren Kontaktwege und damit den Infektionsweg nachvollziehen konnte, machte dieser lokale Ausbruch doch eines klar: Das Virus ist kein rein chinesisches Problem, es interessiert sich nicht für Landesgrenzen.