Hannover sehen und sterben. Thorsten Sueße
Читать онлайн книгу.ich irgendwann den Ausbildungsplatz los. Eigentlich macht mir die Arbeit beim Bürgerfernsehen Spaß.
Zu Hause in seiner Wohnung war der erste Gang zum Kühlschrank, wo er sich ein Bier aufmachte. Der zweite Gang ging an sein Notebook, ins Internet, auf die Website eines Online-Wettbüros.
Nur zwei, drei Wetten heute Abend, dann hör ich auf.
Sportwetten faszinierten ihn schon seit seiner Jugend. Noch sehr genau konnte er sich an seinen ersten Gewinn erinnern. Er hatte den Ausgang eines WM-Qualifikationsspiels der Deutschen Fußballnationalmannschaft aufs Tor genau vorhergesagt, hatte damals 260 Euro auf einen Schlag gewonnen. Da er sich mit einigen Sportarten gut auskannte, schien das eine geniale Möglichkeit zu sein, ohne großen Aufwand innerhalb kürzester Zeit viel Geld zu verdienen. Seitdem hatten ihn Sportwetten nicht mehr losgelassen.
Die achthundert Euro von Lizzis Oma zahl ich irgendwann zurück. Mist, mir fehlt ’ne Glückssträhne, um wieder auf sicheren Füßen zu stehen.
Im Internet war es möglich, ohne Geldlimit zu spielen. Einschränkende Reglementierungen wie in Spielhallen gab es nicht. Zwar waren derartige Online-Glücksspiele nicht erlaubt, wurden aber vonseiten der Behörden praktisch toleriert, zumal die Betreiber auf Konzessionen aus dem EU-Ausland (bevorzugt Malta) zurückgreifen konnten.
Lizzi darf nicht mitbekommen, dass ich um Geld spiele. Dafür hat sie kein Verständnis. Noch nicht. Erst wenn ich den ganz großen Gewinn mache, für uns beide, weih’ ich sie ein. Dann versteht sie es.
Um keine persönlichen Daten angeben zu müssen, nutzte Kilian für seine Wetteinsätze im Internet ein elektronisches Zahlungsmittel, die Paysafecard, die problemlos an Kiosken, Tankstellen und Supermärkten zu bekommen war. Nach den ersten Gewinnen hatte er seine Einsätze kontinuierlich gesteigert, wobei die Verluste schnell überwogen. Jedes Minus versuchte er sofort mit einem neuen (meistens risikoreichen) Tipp auszugleichen.
Heute gewinne ich. So ’ne Scheiße wie mit Lizzis Oma, die echt okay ist, bau ich nie wieder.
Kapitel 12
Paul saß bewegungslos auf dem Bett in seinem Zimmer, in dem unter anderem noch ein Schrank, ein Sofa, ein Lowboard mit Flachbildfernseher und ein Schreibtisch standen. Vom Flur der komplett gefliesten Einliegerwohnung gingen neben den beiden Zimmern für Noah und Paul noch ein Bad und eine Küche mit Essecke ab. Die Tür von seinem Zimmer stand auf. Sein Bruder war nicht da, wie immer in Göttingen, wo er nicht mitbekam, was hier bald abgehen würde.
Paul war außerstande, die Wohnung zu verlassen. Und das, obwohl sich gerade Philipp Rathing im Haus seiner Eltern aufhielt. Ramona hatte erzählt, dass der Schriftsteller am Freitag gegen achtzehn Uhr kurz vorbeikommen würde. Um den E-Book-Reader zurückzugeben. Um Paul ein Feedback zu seinem Mystery-Roman zu geben. Um (nein, das hatte sie nicht gesagt!) zu checken, wie weit Ramona schon war, sich auf den geilen Bock einzulassen.
Vor gut einer Viertelstunde war Philipp hier aufgekreuzt. Oder war es länger her? Bodo war noch nicht zu Hause, musste aber bald kommen. In dieser Situation würde Ramona auf keinen Fall zulassen, dass Philipp die letzte Grenze überschritt. Das Lähmende war die Tatsache, dass der Kerl einfach hier war und damit den nächsten Schritt machte.
Es ist äußerst schwer für mich, mit Mama darüber zu sprechen, in welche Gefahr sie die Familie bringt. Vor Jahren hab ich es in einer ähnlichen Situation zweimal probiert. Bin aber jedes Mal kläglich gescheitert.
Seine Mutter hatte konsequent geleugnet, eine Affäre zu haben, und äußerst abweisend reagiert.
Sie kann nicht eingestehen, was nicht sein darf.
Ein Klopfen an der Verbindungstür.
Die Stimme von Ramona: „Paul, Philipp ist da, wollte mit dir über dein E-Book sprechen.“
Seine Mutter tauchte mit Philipp im Türrahmen von Pauls Zimmer auf. Ein kurzfristiger Energieschub ermöglichte es Paul, sich zu erheben. Er sah die entgegengestreckte Hand von Philipp, ließ sich auf ein Händeschütteln mit dem ungeliebten Gast ein, der ein freundliches Lächeln zur Schau trug.
„Ich lass euch mal allein“, verkündete Ramona und zwinkerte ihrem Sohn zu. Sie schien davon auszugehen, dass Paul die Begegnung mit dem erfahrenen Schriftsteller aufbauen würde.
Er wird mir irgendeinen Scheiß erzählen, um sich bei ihr einzuschleimen.
Trotzdem spielte Paul mit und bot Philipp einen Platz auf dem Sofa an. Er selbst schnappte sich den Schreibtischstuhl und rollte damit ein Stück an ihn heran. Philipp trug über seiner Blue Jeans ein langärmeliges rosa Hemd.
Rosa ist die Schwulenfarbe. Will er auf seinen tollen Schwulen-Roman hinweisen?
Philipp machte einen auf total einfühlsam und verständnisvoll. Er habe natürlich nicht den ganzen Roman gelesen, aber Ausschnitte. Ganz gute Ansätze, Talent zu erkennen, einige originelle Ideen, ausbaufähig, kleine Schwächen beim Spannungsaufbau, Satzbau manchmal holprig, Besuch einer Schreibwerkstatt empfohlen, der persönliche Wert von Schreiben als Therapie nicht zu unterschätzen … blah, blah, blah.
Paul hörte nur einen ungenießbaren Wortbrei, wobei sich das Rosa des Hemds nach und nach über Philipps ganzes Gesicht ausbreitete.
Du kannst mir nichts vormachen. Nichts gefällt dir an meinem Roman. Dein Interesse ist gespielt, das gilt nur meiner Mutter. Ich verabscheue dich!
Kapitel 13
11 Tage vor der Ermordung von P. R.
Samstagmorgen.
Paul konnte es nicht mehr aushalten. Er musste mit seiner Mutter darüber reden.
Aber Papa ist im Haus.
Er hatte mit seinen Eltern zusammen gefrühstückt. Danach ging Bodo in den Garten und kümmerte sich um seinen Teich. Paul räumte mit Ramona das Geschirr in die Küche.
Jetzt oder nie!
Paul trat dicht an Ramona heran. Sie stockte und guckte erwartungsvoll.
Jetzt muss es raus!
„Es ist wegen deines Schulfreundes Philipp … Wie soll ich es ausdrücken …?“, druckste er herum. Er atmete tief ein und aus. Sagte dann fast flehend: „Lass dich bitte auf nichts ein, wenn er was von dir will. Verstehst du?“
Zwei Sekunden Stille. Ramona war überrascht.
„Ich werde nichts tun, was der Familie schadet“, sagte sie mit einem angedeuteten Lächeln, als hätte sie gerade jegliche Befürchtungen zerstreut. Als sie fortfuhr, bekam ihr Gesichtsausdruck schlagartig eine ärgerliche Note: „Und jetzt kümmere dich bitte um deine eigenen Angelegenheiten.“
Ramona verließ die Küche und ging zu Bodo in den Garten.
Bilde ich mir alles nur ein?
Am Nachmittag traf sich Paul mit Sophie zu einer kleinen Shopping-Tour in der Innenstadt von Hannover. Sophie war im gleichen Alter und machte wie Paul ein Freiwilliges Wissenschaftliches Jahr an der Medizinischen Hochschule. Vor einigen Wochen waren sie sich nähergekommen. Sophie mochte es, wenn er sie küsste und streichelte. Aber mehr war bisher nicht drin.
Was ihn sofort fasziniert hatte, war ihre Frisur. Ihre langen braunen Haare hatte sie hinten zu einem Zopf geflochten. Wie die Archäologin Lara Croft aus den alten Tomb-Raider-Computerspielen, die sich mit übernatürlichen Mächten auseinandersetzte. Aber Sophie hatte keinen Draht zu Mystery oder Fantasy. Ihr Interesse galt der empirischen Wissenschaft. Mit Pauls E-Books konnte sie überhaupt nichts anfangen, von seinem ersten Roman hatte sie lediglich den Anfang gelesen. In dem Fall war sie wie Bodo, der sich ebenfalls für Pauls Geschichten nicht begeistern konnte. Dabei hatte sich Paul beim Schreiben der ersten Mystery-Story so gewünscht, dass sein Vater ihn dafür bewunderte.
„Wo bist du eigentlich mit deinen Gedanken?“, fragte ihn Sophie, als sie einen Kaffee bei Starbucks in der Ernst-August-Galerie tranken. „Zumindest nicht bei mir.“
„Tut mir leid. Mir ist da kurz was durch den Kopf gegangen“, antwortete Paul verlegen.