Die Stadt der Regenfresser. Thomas Thiemeyer

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Die Stadt der Regenfresser - Thomas Thiemeyer


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Tauben zusehen, wie sie in Schwärmen über der Stadt kreisten, und sich vorstellen, wie es wohl wäre, eine von ihnen zu sein.

      Ein paar Minuten später hatte er das Ende seines Fluchtweges erreicht. Ein schmuddeliges altes Haus an der Oranienburger, schräg gegenüber der Synagoge. Nach vorn hin gab es einige kleine, schmiedeeiserne Balkone, die durch Feuerleitern miteinander verbunden waren. An ihnen konnte man bequem hinunterklettern. Nur zwischen erstem Stock und Trottoir fehlte eine Leiter, sodass man die drei Meter bis zum Boden am nahe gelegenen Regenrohr entlangrutschen musste.

      Flink wie ein Affe kletterte er hinunter, griff nach dem Metallrohr und ließ sich auf den Bürgersteig hinab. Die Straße hatte ihn wieder. Den fragenden Blicken einiger Passanten wich er einfach aus und machte sich hoch erhobenen Hauptes auf den Heimweg.

      Er war noch keine zehn Meter weit gekommen, als er von einer schwarz behandschuhten Hand gepackt und in einen Hauseingang gezerrt wurde. »Habe ich dich endlich!«, sagte eine tiefe Stimme.

      Oskar blickte auf. Über ihm ragte drohend die dunkle Gestalt des Mannes mit dem Zylinder auf. Das Gesicht lag im Schatten. Nur die Augen hinter den Brillengläsern leuchteten wie zwei wasserblaue Kristalle. Oskar versuchte sich zu befreien, aber die Hand hielt ihn gepackt wie ein Schraubstock.

      »Na, na«, sagte die Stimme. »Willst du etwa schon gehen?«

      Die andere Hand hob sich, zur Faust geballt. Oskar wollte schon die Augen schließen, da sah er, dass sich die Hand öffnete. Ein weißes Pulver leuchtete auf dem schwarzen Leder. Ehe er noch darüber nachdenken konnte, was das wohl für ein Zeug war, hob der Fremde die Hand und blies ihm die ganze Ladung ins Gesicht.

      Oskar fühlte ein entsetzliches Brennen in Mund, Augen und Nase. Er musste würgen und husten. Tränen stiegen ihm in die Augen. Der Staub schnürte ihm die Luft ab. Er griff sich an den Hals und rang nach Atem. Verzweifelt versuchte er ein letztes Mal auszubrechen. Er schlug mit den Armen um sich wie ein Ertrinkender, doch es nützte nichts. Ein feines Lächeln umspielte den Mund des Mannes. Mit dunkler Stimme sagte er: »Ich wünsche dir angenehme Träume, mein Junge.«

      Sternchen tanzten vor Oskars Augen, dann wurde es dunkel um ihn.

      2

      Oskar erwachte mit einem Kopf, der sich anfühlte wie ein matschiger Kürbis. Ein Lichtstrahl drang in seine Augen und stach bis in die hintersten Hirnwindungen. Schnell presste er die Lider zusammen. Er hatte ja schon so manchen Kater von zu viel Bier gehabt, aber noch nie einen solchen. Noch einmal versuchte er, die Augen zu öffnen. Diesmal war der Schmerz nicht ganz so heftig und er entschied, dass er ihn ertragen konnte. Er saß in einem Lehnstuhl mit wertvoll geschnitzten Armstützen und einem hohen Rückenstück, das hinter seinem Kopf aufragte. Außer dem Stuhl befanden sich in dem Raum noch ein Bett, ein Tisch und mehrere Regale, voll mit Büchern. Ein kostbarer geknüpfter Teppich lag auf dem Boden. Oskar versuchte aufzustehen, aber irgendetwas hielt ihn zurück. Er konnte seine Arme nicht bewegen, genauso wenig wie seine Hände und seine Füße. Er blickte an sich hinab und sah, dass er festgeschnallt war. Breite Lederbänder umspannten seine Handgelenke. Sie erlaubten nicht den geringsten Ausbruchsversuch.

      Plötzlich fiel ihm alles wieder ein. Der Diebstahl, der Fluchtversuch, seine Gefangennahme … und der dunkle Mann. Diese wasserblauen Augen und das schmallippige Grinsen. Oskar wurde es mulmig zumute. Gefangen und gefesselt in einem fremden Haus, da brauchte man nicht viel Fantasie, um sich auszumalen, dass er in die Hände eines Verbrechers gefallen war. Eines Irrsinnigen vielleicht, oder eines Mörders. Panik überkam ihn. Er musste weg hier, und zwar schnell. Er zerrte an seinen Fesseln, doch die Lederriemen saßen fest. Kopf, Hände, Füße, alles war festgebunden und der Stuhl war zu schwer, um ihn fortzubewegen. Plötzlich erklangen Geräusche. Schritte, die sich der Tür näherten.

      Oskar gab seine Befreiungsversuche auf und stellte sich schlafend. Er schloss die Augen bis auf einen winzigen Spalt und beobachtete, wie die Tür sich öffnete und jemand den Raum betrat. Im Dämmerlicht erkannte er eine kleine Person, die irgendetwas in den Händen trug. Einen Teller oder ein Tablett. Sie stellte es ab und ging hinüber zum Fenster. Mit Schwung zog sie die Vorhänge beiseite. Helles Tageslicht flutete ins Zimmer. Oskar erkannte, dass es sich nicht um seinen Entführer handelte. Es war eine Frau. Sie trug ein langes, bunt besticktes Hemd und einen ebensolchen Rock. Ihre Füße steckten in farbigen Sandalen und an ihren Handgelenken klimperten goldene Armreifen und Ketten. Sie hatte dunkle Haut und pechschwarzes Haar, das sie mit einem Tuch hochgesteckt hatte. Oskar konnte sich nicht erinnern, jemals eine solche Erscheinung gesehen zu haben.

      Sie kehrte zum Tablett zurück, goss etwas aus einer Kanne in eine Tasse und kam zu ihm herüber. Oskar tat immer noch so, als würde er schlafen, aber die Frau schien zu spüren, dass er es vortäuschte.

      »Hallo, mein Junge«, sagte sie mit weicher, dunkler Stimme. »Ich bringe dir etwas zur Stärkung.«

      Sie rollte das R und sprach mit einem seltsamen Akzent. So nah, wie sie jetzt bei ihm stand, konnte er ihr exotisches Parfum riechen. Es hatte wohl keinen Sinn mehr, sie weiter zu täuschen. Oskar schlug die Augen auf. Das Gesicht, das sich ihm zuwandte, war schön, wenn auch außergewöhnlich. Die Frau mochte etwa dreißig Jahre alt sein, so genau konnte er das nicht abschätzen. Sie hatte große, seelenvolle Augen und einen vollen Mund. Ihre Ohren waren mit goldenen Ringen geschmückt. Sie sah nicht so aus, als wolle sie ihm etwas antun.

      »Möchtest du mal probieren? Schmeckt sehr gut und hilft gegen Kopfschmerzen.« Sie vollführte ein paar seltsame Gesten über der Tasse, die wie Zauberei anmuteten.

      Irgendwie spürte er, dass die Frau nichts Böses im Schilde führte, und seine Panik verflog. Er nickte und ließ sich von ihr das Getränk an den Mund führen. Das Gebräu schmeckte stark, bitter und süß, ganz anders als der Tee oder der Kakao, den man in feinen Gasthäusern bekam und den Oskar mal von Hannah, dem hübschen Küchenmädchen im ›Alten Zollhaus‹, zu kosten bekommen hatte. Es weckte die Lebensgeister und beruhigte seinen Kopf.

      Gierig schlürfte er die Tasse leer. Als er fertig war, waren die Schmerzen bis auf ein winziges Druckgefühl verschwunden.

      »Gut gemacht«, sagte sie und stellte die Tasse wieder weg. »Geht es jetzt besser?«

      Er nickte.

      »Mein Name ist Eliza«, sagte die Frau. »Darf ich?« Sie deutete auf seine Fesseln. Ehe Oskar antworten konnte, löste sie seine Armschlingen und dann seine Kopf- und Fußfesseln. Sie arbeitete schnell und geschickt und im Nu war er wieder frei. Er spürte, wie das Blut in seine Hände schoss, und massierte seine Gelenke.

      »Wie heißt du?«

      Oskar schwieg. Seine Augen suchten nach einem Fluchtweg.

      »Ja, ich weiß, was du denkst.« Sie deutete auf die Bänder. »Ich muss mich für diese Behandlung entschuldigen. Sie diente nur zu deiner eigenen Sicherheit.« Sie lächelte entschuldigend. »Mein Herr ist manchmal ein wenig ungeschickt. Ich habe ihm die Menge genau vorgeschrieben, aber er musste ja gleich das Doppelte nehmen. Sei beruhigt, der Kopfschmerz dürfte gleich vorbei sein.«

      »Wo bin ich hier?« Oskar stand langsam auf. Seine Beine fühlten sich noch etwas zittrig an, aber immerhin trugen sie ihn schon wieder.

      »Im Haus meines Herrn«, lautete die Antwort. »Möchtest du ihn sehen?«

      »Wen?«

      »Deinen Gastgeber.«

      Oskar ging ein paar Schritte. »Ich weiß nicht …«

      »Er würde sich freuen, dich zu sehen.« Sie warf ihm einen aufmunternden Blick zu. »Ich weiß, dass dir das alles sehr seltsam vorkommen muss, aber du brauchst dich nicht zu fürchten. Folge mir einfach.«

      Das Haus war von beeindruckender Größe. Schon allein der Speisesaal war ehrfurchtgebietend. An der Decke hing ein Kristallleuchter, der das hereinflutende Tageslicht einfing und es in tausendfaches Funkeln zerlegte. Inmitten einer Reihe sehr komfortabel aussehender Stühle stand ein Tisch, an dem bequem dreißig Leute Platz finden konnten. Wertvolle geschnitzte Vitrinen und Abstelltische zeugten vom erlesenen Geschmack des Hausherrn. Eliza legte


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