Die Stadt der Regenfresser. Thomas Thiemeyer

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Die Stadt der Regenfresser - Thomas Thiemeyer


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Führer. Wir mussten unverrichteter Dinge wieder heimkehren. Damals habe ich mir geschworen, nur noch mit einer kleinen Gruppe auf Reisen zu gehen. Mit Leuten, die sich in jeder Lage zu helfen wissen und die – wenn es die Situation erfordert – Dinge organisieren können, wenn du verstehst, was ich meine. Es würde zu lange dauern, dir das jetzt alles auf einmal erklären zu wollen, darum mache ich dir einen Vorschlag.« Er sah Oskar prüfend an. »Ich zeige dir mein Labor und erkläre dir, worum es geht. Du übernachtest hier und lässt dir die Sache durch den Kopf gehen. Wenn du dich morgen früh entscheidest zu gehen, werde ich dich nicht hindern. Dann bist du wieder ein freier Mann. Wärst du mit diesem Angebot einverstanden?«

      Oskar blickte skeptisch. »Das ist doch ein Trick, habe ich recht?«

      »Kein Trick. Nur ein offenes und ehrliches Angebot.«

      Ha, dachte Oskar. Offen und ehrlich, dass ich nicht lache. Vermutlich genauso ehrlich wie diese Nummer mit dem Kompass. Andererseits: Was, wenn doch etwas dran war? Die Sache hatte auch ihren Reiz. Misstrauisch blickte er zwischen dem ungleichen Paar hin und her. In Anbetracht einer fehlenden Alternative nickte er vorsichtig. Morgen früh könnte er sich immer noch aus dem Staub machen.

      »Abgemacht«, sagte er. »Eine Nacht.«

      »Prächtig.« Humboldt rieb sich die Hände und stand auf. »Dann folge mir in mein Laboratorium. Ich bin sicher, es wird dir gefallen. Oh, ich vergaß zu fragen: Hast du Hunger? Eliza macht dir gerne eine Kleinigkeit. Dann kannst du dich etwas stärken, während ich dich herumführe.«

      3

      Die Treppe, die in den Keller hinunterführte, roch alt und modrig. Die Stufen waren von der Feuchtigkeit ganz rutschig und aus dem Mauerwerk drang Schimmel. Die Petroleumlampe in Humboldts Hand spendete nur dürftiges Licht. Ihr flackernder Schein warf merkwürdige Schatten auf die grob behauenen Steine, sodass sie manchmal aussahen wie hämische Fratzen. So hatte Oskar sich immer mittelalterliche Folterkeller vorgestellt. In banger Erwartung eines Schreies oder des Klirrens von Ketten nahm er noch einen Bissen von seinem Brot. Eliza hatte es mit irgendeiner scharfen Wurst und exotisch schmeckenden Gemüsestückchen belegt. Der Geruch von Gewürzen und frischen Kräutern stieg ihm in die Nase.

      »Eine interessante Haushälterin haben Sie da«, bemerkte er. »Ein wenig seltsam, aber das Essen schmeckt sehr gut. Wo findet man so jemanden?«

      Humboldt war stehen geblieben und drehte sich zu ihm um. »Eliza ist weit mehr als nur eine Haushälterin«, sagte er. »In ihrem Land war sie eine mächtige Zauberin. Sie verfügt über Fähigkeiten, die du dir nicht mal im Ansatz vorstellen kannst. Eine davon ist die Telepathie. Schon mal davon gehört?«

      Oskar schüttelte den Kopf.

      »Es ist eine Gabe, die es einem ermöglicht, über weite Entfernungen hinweg mit anderen Menschen zu kommunizieren, allein mittels der Kraft der Gedanken.« Er zuckte die Schultern. »Ich bin nie dahintergekommen, wie sie es macht, aber sie kann es, das ist unbestritten. Echte Magie, wenn du so willst. Aber um deine Frage zu beantworten: Ihre Heimat ist Haiti, der westliche Teil der Insel Hispaniola, in der Karibik gelegen. Ein wildes und urtümliches Land. Seine Einwohner verstehen sich auf alle Sorten von Magie, manche gutartig, manche böse. Erinnerst du dich an das Pulver, das ich dir ins Gesicht geblasen habe? Das war so eine Art von Zauberei. Es handelte sich dabei um eine Substanz, die Eliza aus ihrer Heimat mitgebracht hat«, erläuterte Humboldt. »Sie mischen sie dort aus allerlei Kräutern und Mineralien zusammen. Sie spielt bei einem Ritual namens Voodoo eine wichtige Rolle. Die Zauberer von Haiti besitzen die Fähigkeit, einen Menschen völlig willenlos zu machen, zu einer leeren Hülle ohne Geist, der nur auf Befehle reagiert. Eliza wird dir vielleicht bei Gelegenheit mal davon erzählen.«

      Oskar hob eine Augenbraue. Bei Gelegenheit? Dieser verrückte Kerl ging also wirklich davon aus, dass er bleiben würde? Warum war er sich seiner Sache so sicher? Was war hier unten?

      Nachdenklich biss er noch einmal von dem Brot ab.

      Humboldt ging weiter und blieb vor einer massiven Eichentür stehen. Aus den unergründlichen Tiefen seiner Hose holte er einen riesigen Schlüsselbund hervor, wählte einen Schlüssel aus und schloss auf. Beim Öffnen quietschte die Tür in ihren Angeln.

      Rötliches Licht drang von innen heraus. Humboldt löschte seine Lampe und winkte Oskar zu sich heran.

      »Komm, mein junger Freund. Tritt näher.«

      Oskar bezähmte seine Furcht und ging an Humboldt vorbei. Doch kaum war er in den Raum getreten, blieb er wie angewurzelt stehen.

      Das Erste, was ihm auffiel, war die immense Größe. Vor ihm erstreckte sich ein quadratischer Saal von mindestens zwanzig Meter Länge, der von zahlreichen Petroleumlampen erhellt wurde. Überall standen Tische und Ablagen, auf denen sich seltsame Apparaturen befanden. Eine angenehme Wärme herrschte hier. Für einen Keller ganz und gar ungewöhnlich. Die Decke war gewölbt und mit Kreuzgraten versehen und wurde vonsteinernen Säulen getragen, die den Raum in regelmäßige Abstände untergliederten. Die rundbogigen Nischen entlang der Wände unterstrichen den Eindruck, sich im Inneren einer Kirche zu befinden.

      Fragend blickte er seinen Gastgeber an.

      »Ganz recht«, sagte Humboldt, als hätte er seine Gedanken gelesen. »Eine ehemalige Krypta. Die Kirche selbst gibt es nicht mehr. Sie wurde im Dreißigjährigen Krieg bis auf die Grundmauern zerstört. An ihrer Stelle wurde ein Haus errichtet, mit dessen Besitzer ich seinerzeit gute Kontakte pflegte und der es mir, kurz vor seinem Tod, zu einem angemessenen Preis verkauft hat. Was du hier siehst, ist das Herzstück des gesamten Anwesens: ein Forschungslaboratorium, wie du es in Berlin – ich möchte sogar sagen: in ganz Europa – kein zweites Mal finden wirst.«

      Oskar richtete seine Aufmerksamkeit auf die Gerätschaften, die hier herumstanden. Überall sprudelte und gluckerte es. Funken sprühten und Dämpfe stiegen auf. Auf manchen Tischen standen mannshohe Glaskolben, in denen aus grünlicher Flüssigkeit kleine Bläschen aufstiegen. An anderen rotierten Metallräder, scheinbar ohne äußeren Antrieb. Wieder auf anderen Tischen standen große Metallkugeln, zwischen denen bläuliche Blitze hin und her zuckten. Es war, als wäre er in die Werkstätte eines Hexenmeisters geraten.

      »Das, was du hier siehst«, sagte Humboldt und deutete mit einer weit ausladenden Geste auf sein Labor, »sind die Früchte jahrelanger Forschung und Arbeit. Wärme, Licht, Elektrizität, die Grundlagen moderner Wissenschaft. Nichts davon hat mit Zauberei zu tun, alles ist erklärbar. Vorausgesetzt, man macht sich die Mühe und forscht gewissenhaft. Für Scharlatanerie ist hier kein Platz, genauso wenig wie für Ignoranz. Was mich interessiert, sind die vier Elemente Feuer, Erde, Wasser und Luft. Nicht zu vergessen natürlich die Astronomie, die Sternenkunde. Ich werde dir mal mein Observatorium im obersten Stockwerk zeigen – falls du möchtest. Doch zunächst will ich dir erklären, wohin die Reise geht und was ich dort will.«

      Auf dem Weg zu einem riesigen Tisch am hinteren Ende der Krypta kamen sie an einer gläsernen Vitrine vorbei. Sie war bis auf den letzten Fleck mit Waffen gefüllt. Pistolen, Messer, Armbrüste. Nichts davon sah den Waffen, die Oskar kannte, auch nur entfernt ähnlich. Alle waren sie modifiziert oder umgebaut worden und wirkten wirklich furchteinflößend.

      »Was ist denn das hier?«, fragte er. »Haben Sie vor, in den Krieg zu ziehen?«

      Humboldt sah Oskar ins Gesicht. »Wissen ist nicht immer leicht zu erlangen«, sagte er. »Noch immer gibt es viele, die lieber an altem Aberglauben festhalten und moderne Erkenntnisse für Teufelswerk halten. Dann gibt es natürlich die Neider und Konkurrenten, von denen die meisten mit kriminellen Methoden arbeiten. Das Leben eines Forschers ist mit Gefahren gespickt und man ist gut beraten, sich zur Wehr setzen zu können.« Er griff nach einer Armbrust. »Dieses Stück hier verfügt über eine Trommel zum Verschießen mehrerer Pfeile. Zwanzig Stück, um genau zu sein. Sie werden mittels Gasdruck abgeschossen und sind absolut tödlich.« Mit geschickten Bewegungen prüfte er Spannkraft und Zielgenauigkeit, ehe er das Instrument zurück an seinen Platz hängte. »Letztendlich hoffe ich immer, diese Geräte nie einsetzen zu müssen, aber manchmal führt eben kein Weg daran vorbei.«

      »Und das hier?« Oskar


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