Leichen bluten nicht - Roland Benito-Krimi 6. Inger Gammelgaard Madsen
Читать онлайн книгу.das mussten sie dann in Kauf nehmen. Roland hatte ebenfalls Schweiß auf der Stirn und spürte nasse Flecken unter den Armen seines kurzärmeligen Hemds. Hilflos schaute er zu Kurt Olsen, denn ihm fiel einfach keine Antwort ein, doch da rettete ihn ein Klopfen an der Tür. Der Diensthabende kam herein.
»Entschuldigt die Störung, aber ich bin davon ausgegangen, dass das hier nicht warten kann. Gerade ist ein neues Opfer gefunden worden. Ebenfalls eine junge Frau. Vergewaltigt. Anscheinend die gleiche Vorgehensweise. Sie ist gestorben. Wurde erwürgt und verprügelt, vielleicht nicht gerade in dieser Reihenfolge.«
Kurt Olsen schaute anklagend zu Roland. »Das hier war doch verdammt nochmal nicht in der Presse, sodass andere auf dumme Ideen gebracht worden sind?«
Roland hielt abwehrend beide Hände in die Luft.
»Aus unserer Abteilung ist nichts durchgesickert, das kann ich dir versprechen, aber mit diesen Journalisten weiß man ja nie. Die haben sich natürlich auf Majas Freunde gestürzt, die vielleicht sogar Schlange gestanden haben, um in die Zeitung zu kommen.«
Kim murmelte irgendetwas und drehte sein iPad, das er immer mit sich herumschleppte, sodass der Bildschirm zu Roland zeigte. Er konnte wegen des reflektierenden Lichts nichts erkennen. Kurt kniff ebenfalls die Augen zusammen.
»Nachrichten-Online«, erklärte Kim und hob die dunklen Augenbrauen, was ihn wie eine ältere Ausgabe von Harry Potter aussehen ließ. Er las die Überschrift vor. »Das hier wurde gestern hochgeladen: Außergewöhnlich schwere Vergewaltigung! Schlafende Frau mit unbekanntem, scharfem Gegenstand in ihrer eigenen Wohnung vergewaltigt. Hier wird genau beschrieben, wie der aussehen könnte. Das, was du gerade gesagt hast, Roland«, Kim schaute ihn für einen kurzen Augenblick schockiert an, bevor er fortfuhr. »Und das hier wurde heute frühmorgens hochgeladen: Vergewaltigungsopfer tot! Mörder immer noch auf freiem Fuß! Wo ist die Polizei? Man hört nichts von ihr!«
»Wie zum Teufel haben die das erfahren?«, zischte Kurt. »Wir müssen diese Pressekonferenz einberufen, obwohl wir noch nicht darauf vorbereitet sind, sonst gerät das Ganze völlig aus der Spur. Na, seid ihr bereit, wieder auszurücken?«
8
Anne schwitzte, obwohl es erst halb sieben morgens war, und spritze sich in dem winzigen Gäste-WC, das zu den neuen Räumlichkeiten gehörte, kaltes Wasser ins Gesicht. Es war auf Dauer unzumutbar geworden, die Redaktion in Nicolajs Wohnung am Marselis Boulevard zu haben, also hatte er einige freie Räume in einem Haus in der Frederiks Allee angemietet. Näher an allem dran. So viel sie wusste, waren sie früher als Lager für ein Schuhgeschäft – oder war es ein Taschengeschäft? – benutzt worden. Jedenfalls hatte sich der Übelkeit erregende Ledergeruch in den Räumen festgesetzt, und es war viel instand zu setzen gewesen. Nicolaj hatte sich um das Ganze gekümmert. Oder besser gesagt, für das Ganze bezahlt. Er hatte einen ihr unbekannten Betrag von seinem Vater geerbt, der vor einem halben Jahr gestorben war, und sie hatte nicht gegen seinen plötzlichen Entschluss protestiert, in andere Räumlichkeiten zu ziehen. Jetzt hatte sie es nicht mehr weit zur Arbeit, es waren nur ein paar Minuten zu Fuß. Es war eine ganz gemütliche kleine Redaktion geworden mit einem Extraraum für Besprechungen. Das Bad war jedoch nicht renoviert worden und sah nicht besonders einladend aus. Tropfende Wasserhähne, die im Laufe der Zeit rostfarbene Streifen in dem Porzellanwaschbecken hinterlassen hatten, und dicke bräunliche Kalkränder in der Kloschüssel, ganz zu schweigen von dem Gestank aus dem Abfluss, der bei Regen besonders schlimm war. Aber wie Nicolaj sagte, sollten sie sich ja auch nicht überwiegend dort aufhalten, Schreibtische für die Computer und Sitzgelegenheiten würden reichen. Sie betrachtete ihr Gesicht in dem fleckigen Spiegel. Sauberer hatte sie ihn nicht bekommen. Die Zeit als Reinigungsassistentin hatte sie doch ein kleines bisschen geprägt; sie konnte keinen Schmutz mehr sehen, ohne den Drang zu verspüren, sauberzumachen. Das machte sich so gesehen auch in ihrem Beruf als Journalistin bezahlt. Ihr Gesicht sah genauso müde aus, wie sie sich fühlte. Sie hatte letzte Nacht nicht viel geschlafen. Esben war zu Besuch gekommen und das bedeutete immer schlaflose Nächte. Ihr tat alles weh und sie hielt ihre Handgelenke unter kaltes Wasser. Zum Glück waren die Spuren nicht so deutlich, sodass Nicolaj sie hoffentlich nicht bemerkte. Esben schnürte die Fesseln nicht besonders fest, es reichte, dass sie da waren, um ihm das Gefühl zu geben, Macht über sie zu haben. Sie sollte die Unterwerfung spüren. Sie schauderte, aber nicht aus Unbehagen. Die Scham war deutlich als eine intensive Röte in ihrem Gesicht zu sehen. Heute, am Tag darauf, konnte sie sich aus einer gewissen Distanz betrachten; das, was sie sah, gefiel ihr nicht. War das wirklich sie? Diese andere Seite von ihr, die niemand anders kannte. Ihr gemeinsames kleines Geheimnis. Er hatte versucht sie zu überreden, mit in den SM-Club zu kommen, aber da zog sie dann doch eine Grenze. Sie wusste, dass er selbst ab und zu dort Gast war, aber das machte ihr nichts aus. Sie war nicht einmal eifersüchtig. Vielleicht war sie bloß mittlerweile abgestumpft. Vielleicht war ihr die Fähigkeit, Liebe zu empfinden, zusammen mit Adomas abhandengekommen. Sie nahm ein frisch gewaschenes Handtuch von dem halbverrosteten Haken und trocknete sich das Gesicht ab. Schaute wieder in den Spiegel. War sie außerstande, etwas zu fühlen? Traute sie sich nicht, aus Angst vor einem erneuten Verlust? Genoss sie Esbens harte Behandlung, weil sie es verdiente, bestraft zu werden? Das mit Adomas war ihre Schuld gewesen. Sie schüttelte über sich selbst den Kopf. Vielleicht könnte ein Psychologe all die törichten Fragen beantworten, aber sie wollte mit so einem Experten, der in der menschlichen Psyche herumwühlte, nichts zu tun haben. Es gab zu viel Mist auszugraben. Nein, sie empfand bloß nichts für Esben. Jedenfalls keine Liebe, so war das einfach. Es war nur Sex. Nicht mehr. Harter und brutaler Sex, wie sie es offenbar wollte.
Sie hörte, dass Nicolaj gekommen war, und beeilte sich, aus der Toilette zu kommen, rannte ihn beinahe um, da er auf dem Weg hinein war, um Wasser für die Kaffeemaschine zu holen.
»Mann, hast du mich erschreckt! Du bist schon hier?«, japste er und griff sich demonstrativ ans Herz.
»Anscheinend, und jetzt krieg bitte keinen Herzinfarkt, ja.«
Sie hörte, dass er den Wasserhahn anmachte und ihr wurde schlecht, wie immer, wenn sie sich vorstellte, Wasser aus diesem ekligen Wasserhahn trinken zu müssen.
»Nein, davon gibt’s in letzter Zeit echt genug«, rief er, um das Rauschen des Wassers zu übertönen.
»Was meinst du damit? Denkst du an den Grabschänder?«, fragte sie und schaltete den Computer an. Er fuhr mit einer gewaltigen Beschleunigung der Lüftung hoch. Einige Computer waren in der Sommerhitze ausgefallen.
»Unter anderem … und an das Vergewaltigungsopfer.«
Nicolaj kam aus der Toilette und goss Wasser in den Behälter der Kaffeemaschine. Sie versuchte sich damit zu trösten, dass er es immerhin nicht aus der Kloschüssel geholt hatte.
»Was meinst du?«
Nicolaj warf Kaffeebohnen in die Mühle, die einen Augenblick lang alle anderen Geräusche übertönte. So mochte er seinen Kaffee am liebsten – frischgemahlen – danach gab er ein paar Löffel voll in den Filter. Bald ließ der Duft sie den verkalkten und rostigen Wasserhahn vergessen.
»Sie ist letzte Nacht gestorben. Auch an einem Herzstillstand.«
Annes Inneres gefror zu Eis, ohne dass ihr jedoch dadurch weniger heiß war.
»Was sagst du? Woher weißt du das?«
»So wie es aussieht warst du wohl noch nicht auf Nachrichten-Online.«
»Nein, ich bin gerade erst gekommen. Aber da steht ja wohl auch nicht, woher du das weißt, oder?«
Er blinzelte ihr bloß frech zu.
»Okay, dein Kontakt«, sagte sie dann wie selbstverständlich und hatte auf ihrem Bildschirm die Datenbank aufgerufen, mit der sie die Homepage aktualisierten. »Du hast um halb fünf aktualisiert, wie ich sehe. Kriegst du so früh am Morgen Bescheid?« Sie hörte selbst, dass in ihrer Stimme ein Hauch von Neid lag. Es war ihr nicht gelungen, einen neuen Informanten zu finden, nachdem ihrer auf unbestimmte Zeit im Gefängnis gelandet war.
Nicolaj schenkte Kaffee in zwei Becher und stellte einen vor Anne auf den Schreibtisch.
»Ich habe es nicht von der Person erfahren,