Das weibliche Genie. Hannah Arendt. Julia Kristeva

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Das weibliche Genie. Hannah Arendt - Julia  Kristeva


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Man erinnert sich an die großartige Madame de Merteuil, für die manche Frauen – so wie die Präsidentin de Tourvel – stets nur »eine Art Gattung« waren. Selbst Joyce, der unüberschreitbare Wortspieler, der seine Molly in- und auswendig kannte, glaubte in der Wahrheit zu sein, als er den Männern die Zeit zuordnete und den Frauen den Gattungsraum vorbehielt: »Father times and mother spacies«, und Baudelaire, der am lautesten Fordernde, spottete über den »kindischen Aspekt der Mutterschaft«. Das ist nicht falsch, aber das ist nicht alles. Mütter können Genies nicht nur der Liebe, des Feingefühls, der Selbstlosigkeit, der Ausdauer oder selbst der Hexerei und des Zaubers sein, sondern auch einer bestimmten Art und Weise, das Leben des Geistes zu leben. Diese Weise, Mutter und Frau zu sein – manchmal wärmstens akzeptiert, mitunter verleugnet oder unter Konflikten zerbrochen –, verleiht ihnen in der Tat ein ganz eigenes Genie. Genau das ist es, was Frauen im zwanzigsten Jahrhundert zahlreicher, sicherer als in vergangenen Zeiten auf machtvolle Weise beweisen: Obwohl kindisch in der Gattung und im Raum eingenistet, können sie auch als erneuernde Singularitäten handeln und die conditio humana zutiefst modifizieren.

      Ohne Zweifel prägten nicht nur die drei Frauen, von denen hier die Rede sein wird, die immer vielfältigeren Aktivitäten in unserem Jahrhundert. Aus persönlicher Neigung habe ich Hannah Arendt (1906 – 1975), Melanie Klein (1882 – 1960) und Colette (1873 – 1954) gelesen, geschätzt und ausgewählt. Ich hoffe, am Ende dieses Buches wird der Leser davon überzeugt sein, daß diese persönliche Wahl mit einer objektiven Auszeichnung zusammenfällt.

      Im zwanzigsten Jahrhundert haben die beschleunigten Fortschritte der Wissenschaft mehr und besser als zuvor sowohl die Vortrefflichkeit der Menschen als auch die Gefahren der Selbstzerstörung der Menschheit offenbart. Die Shoah ist ein Beleg dafür, und es ist fast überflüssig, die Atombombe oder die Gefahren der Globalisierung hinzuzufügen.

      Das Leben erscheint uns nunmehr, nach dem Zusammenbruch der Wertesysteme, als höchstes Gut. Bedrohtes, begehrtes Leben: aber welches Leben? Darüber dachte Hannah Arendt intensiv nach, als sie auf ein politisches Handeln setzte, das angesichts der beiden Totalitarismen das »Wunder der Geburt« achtet und offenbart.

      Doch zog sie es vor, die Möglichkeit zu übergehen, daß eine Sprache wahnsinnig werden und sich hinter dem »gesunden Menschenverstand« die Gefahr einer Demenz verbergen kann. Es war Melanie Klein, die diese Abgründe der menschlichen Psyche erkundete und mit kriminalistischem Scharfsinn unaufhörlich dem Todestrieb nachspürte, der das sprechende Wesen vom ersten Tag an beseelt, wobei sich Melancholie und Schizo-Paranoia um den Vorrang streiten.

      Die Genießerinnen, die Verführerinnen, die sich am Fleisch einer Aprikose ebenso berauschen wie am Aronstab des Geschlechts ihres Liebhabers oder den fliederduftenden Brüsten der Geliebten, sind dennoch nicht aus dem Atomzeitalter entschwunden. Wenn dieses zwanzigste nicht nur das Jahrhundert der unheilvollen Erinnerung ist, dann ohne Zweifel dank der Lust und Schamlosigkeit freier Frauen wie Colette, die beides mit der unverschämten Anmut der Aufsässigen auszudrücken verstand. Die Würze der Wörter, die uns roboterhaften Individuen zurückgegeben wurde, ist vielleicht das schönste Geschenk, das eine weibliche Schreibweise der Muttersprache bieten kann.

      Zwei Jüdinnen deutscher Sprache, die auf Englisch in New York und in London den Ernst der Politik und die Grenzen des Menschlichen erkundeten, und eine französische Bäuerin, die erneut das Feuer der Materialisten und der raffinierten Ausschweifungen anfachte. Durch ihr Genie werden uns die vielfältigen Gesichter der modernen Zeiten in ihrer komplementären Komplexität und Wahrheit wiedergegeben.

      Diese drei Frauen haben mit Männern, ihren Männern, gelebt, gedacht, geliebt, gearbeitet: Dabei erlitten sie mitunter die Autorität eines Lehrers oder hingen von seiner Liebe ab; bisweilen nahmen sie das Risiko des Aufruhrs auf sich, durch den die Unschuld unwiderruflich verloren geht; mehr oder weniger respektvoll errangen sie dabei stets ihre Unabhängigkeit.

      Man wird sich vielleicht darüber wundern, daß jene politischen Bücher über den Antisemitismus und den Totalitarismus, die Hannah Arendt berühmt machten, hier nur als ein Teil ihrer Schriften behandelt werden. Uns schien wesentlich, die Entstehung ihrer Forschungen nachzuzeichnen, das Porträt der Denkerfrau, deren wichtigste politische Beiträge andere bereits gelobt oder kritisiert haben. Wir werden sehen, wie sie nach Heidegger das Dasein abhorcht, aber auch in den gewagten und dennoch unumgänglichen Bindungen, die mit den anderen immer neu zu beginnen sind, die Virtuosität des »Erscheinens« an die Stelle der Einsamkeit des »Geworfenseins« setzt. Die Heideggersche »Verlassenheit« inmitten des anonymen »Man« wird plötzlich unkenntlich, wenn Hannah Arendt auf das Wunder vertraut – die »Geburt eines jeden« in der »Zerbrechlichkeit der menschlichen Angelegenheiten«, im politischen Raum. Obwohl diese Liebhaberin des Denkens das Werk des großen Philosophen stets aufmerksam verfolgt, gelingt es ihr, sich von ihm zu befreien, um eine herausragende politische Theoretikerin – eine umstrittene, doch nicht zu übergehende – zu werden. Nicht nur brachte sie als erste die beiden totalitären Herrschaftsformen wegen der ihnen gemeinsamen Zerstörung des menschlichen Lebens miteinander in Verbindung, sie brachte auch als erste das »Erscheinen« als echte Bedingung für die Menschheit zur Geltung in dem Maße, wie es jedem seine irreduzible Singularität offenbart – wenn und nur wenn dieser Jeder den Mut findet, den Gemeinsinn der anderen zu teilen. Und vielleicht ist der Medientrubel seit dem Tod Hannah Arendts nicht nur ein Fluch; zumindest wenn man ihn mit dem Genie dieser Frau denkt, die den politischen Sinn als »Geschmack« für das Zeigen, Beobachten, Sich-Erinnern und Erzählen aufwertete.

      Freud hatte gerade das Unbewußte und die Abhängigkeit der Geisteskrankheit von der Sexualität entdeckt. Er erforschte die Klippen der Lust und rechnete mit dem gesellschaftlichen Konformismus ab, der nicht wissen wollte – und immer noch nicht wissen will –, daß menschliche Körper Wesen des Begehrens sind. Dieses Hören auf Eros und Thanatos war von heftigeren, mehr oder weniger ödipalen Auseinandersetzungen des Lehrmeisters der Psychoanalyse mit seinen Schülern begleitet. Während dieser Zeit arbeitete Melanie Klein an der Loslösung. Die Pflege der Kinder hatte sie gelehrt, daß die Destruktivität am Anfang steht und im Wahn kulminiert, jedoch stets Trägerin des Begehrens bleibt. Freud hatte darauf hingewiesen, doch Klein ist es, die alle Konsequenzen daraus ziehen wird. Als Wegbereiterin der Kinderpsychoanalyse neben Anna Freud, jedoch radikaler als diese, eröffnete Melanie Klein die Möglichkeit einer echten Psychoanalyse der Psychose, welche in der Lage ist, den Spiritualismus von Jung zu vermeiden, der sich gegen Freud auf eben dieses Gebiet gewagt hatte. Jenseits des Dogmatismus der erbarmungslosen Erkunderin, die zu sein man sie beschuldigt, erwies sich ihr Werk als etwas, woran man weiterarbeiten kann. Es fand eine Fortsetzung in den originellen und fruchtbaren Ausarbeitungen, die, wenn überhaupt nötig, ihre Richtigkeit bestätigen: W. R. Bion und D.W. Winnicott waren nicht ihre Schüler, doch ihre Fortsetzer. Ohne sie und ohne die moderne Psychoanalyse der Psychose und des Autismus, die im Zentrum der Arbeiten von Melanie Klein stehen, würde uns heute diese die moderne Kultur auszeichnende Orientierung auf die Nähe des Wahns und die Vielfalt der Behandlungsmöglichkeiten fehlen, dank derer wir ihn beeinflussen können.

      Daß die Lust nicht nur organisch ist, sondern sich auch in den Worten gibt, unter der Bedingung, daß es diesen gelingt, sich für jene empfänglich zu machen – das hat seit Rabelais und den Sensualisten und Libertins des achtzehnten Jahrhunderts niemand besser zum Ausdruck gebracht als der französische Genius. Doch war es Colettes Privileg, die französische Sprache mit jener heidnischen Würze zu sättigen, die den Charme unserer Zivilisation ausmacht, und zu erzählen, wie die Sinnlichkeit sich in der sexuellen Eulenspiegelei der raffinierten oder in den süßen Lüsten der einfachen Leute verwurzelt. Im Gegensatz zu Hannah Arendt und zu Melanie Klein muß sie nicht über einen Lehrmeister hinausgehen, um ihr Genie zu erfüllen – Willy, dann Jouvenel, ihre Ehemänner, stellten vor allem eine Hilfe, einen Schutz und erst zuletzt ein Hindernis dar. Sie mißt ihre Kräfte unmittelbar mit der Autorität der Muttersprache, was sie dazu führt, sich zugleich der Vernunft und der Weiblichkeit zu konfrontieren, die eine wie die andere zu lieben, die eine wie die andere zu verwandeln. Ihr einziger wahrer Rivale wird Proust sein, dessen narrative Suche in ihrer sozialen und metaphysischen Komplexität über die Abenteuer von Claudine und ihrer Komplizinnen hinausgeht; aber Colette läßt ihn weit hinter sich in der Kunst, die keineswegs verlorenen Genüsse einzufangen.

      Diese


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