Das weibliche Genie. Hannah Arendt. Julia Kristeva

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Das weibliche Genie. Hannah Arendt - Julia  Kristeva


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ganz erkennbar« (schon Philosophin?). Sie ist »ausserordentlich lebhaft immer in Eile u. Bewegung, sehr zutraulich, auch zu ganz fremden Leuten«; mit sechs »lernt [sie] leicht und ist augenscheinlich begabt, rechnet ganz besonders gut.«12

      Dieses Glück währte nicht lange, es wurde schnell getrübt durch den körperlichen Verfall Paul Arendts, der an Syphilis erkrankt war. In seiner Jugend zugezogen, lange stabilisiert, verschlimmert sich die Krankheit zwei Jahre nach der Geburt seiner Tochter und erreicht 1911 eine dramatische Phase mit Verletzung, Ataxie und Paresie (eine Art Demenz). Paul Arendt muß seine Arbeit aufgeben, die Familie läßt sich in Königsberg nieder, wo er ins Krankenhaus kommt. Der Großvater Max heitert diese traurigen Stunden während der Spaziergänge mit seiner Enkelin durch seine Kunst des Erzählens auf; und wenn man später im Werk der Philosophin eine Apologie des erzählten Lebens, bios / Biographie, finden wird, dem sie das biologische und stumme Leben, zoe, entgegenstellt, wird man sich an die erzählerische Magie eines anderen Vaters erinnern, der Hannah an das Leben band, während Paul Arendt seinen unerbittlichen Verfall erlebte.

      1913: Max stirbt im März, Paul im Oktober. Martha notiert in Unser Kind, daß Hannah von diesem doppelten Ableben nicht berührt wird. »Bis sie mir gelegentlich erklärt, man müsse an traurige Dinge so wenig wie möglich denken, es hat doch keinen Sinn dadurch traurig zu werden. Und das ist so recht bezeichnend für ihre grosse Lebensfreudigkeit […] Sie nimmt das als etwas Trauriges für mich auf. Sie selbst ist unberührt davon. […] Sie ist auch bei der Beerdigung dabei u. weint, ›weil so schön gesungen wird‹…«13

      Naivität des kleinen siebenjährigen Mädchens? Oder bereits ein Leben, das sich im Denken entfaltet und weiß, daß es möglich ist, entsprechend seinem Willen zu denken: an traurige Dinge – davon ist abzuraten – oder lieber an Lieder? Wenn ich im Denken bin, fehlt mir nichts? Man kann dies in der Tat annehmen, wenn man die Reflexionen ihrer Mutter liest: »Nun denkt sie auch wieder an ihren lieben Opa u. spricht von ihm lieb u. mit warmem Ton, aber ob er ihr fehlt? Ich glaube es kaum.«14 Ist das Denken nicht die einzige Art und Weise, mit den Toten zu leben, sie nicht zu verlieren und die Trauer zu transzendieren? Wir werden die Spur dieses frühreifen Ausweichens vor dem Tod dank eines Denkens, dem nichts fehlt, im impliziten Streit Hannah Arendts mit dem »Sein-zum-Tode« Heideggers wiederfinden. Ohne sich der Tragik des Todes zu entziehen, eröffnet sie neue Perspektiven, um den gemeinsamen Raum des Erscheinens zu denken: Bindungen, Teilung, Handeln.

      Doch die Ruhe währt nur ein Jahr: Mit dem großen Krieg und der sexuellen Entwicklung des sehr jungen Mädchens beginnen die Ärgernisse. Hannah ist nicht mehr ganz so fröhlich, informiert uns Unser Kind; ihre quer wachsenden Zähne erfordern eine Zahnregulierung, unter der sie leidet; ihre schriftlichen Arbeiten sind nicht mehr so ausgezeichnet wie sonst, und selbst im Mündlichen ist sie schwächer – womit alles gesagt ist! Sehr leicht verletzbar, von launenhafter Stimmung, ist sie sogar »ungehorsam und rüpelhaft«! Das Ganze vor dem Hintergrund wiederkehrender kleiner Krankheiten: Fieber, Husten, Nasenbluten, Kopf- und Halsweh. Die Pubertät hat offensichtlich eingesetzt, und Hannah gelingt es noch nicht zu entscheiden, ob sie so robust wie … ihr Vater sein wird. »Könnte sie nicht ihrem Vater ähneln!« notiert Martha. Das wird schon kommen!

      Eine harmlose Bemerkung des kleinen achtjährigen Mädchens (wir befinden uns im Jahre 1914) verrät die männliche Identifizierung, die sich abzeichnet: »…wenn uns jetzt ein Kind geboren wird, dann kennt es auch nicht seinen Vater«15, sagt Hannah ihrer Mutter. Seltsame Worte! Hinter dem Begehren zu wissen, woher die Kinder kommen, und seine Eltern zu erkennen, um dabei von ihnen anerkannt zu werden, ist in diesen Worten Hannahs die Auseinandersetzung zwischen den beiden Frauen und ihr Begehren nach dem abwesenden Mann erkennbar – Begehren, diesen Mann zu haben, Begehren, dieser Mann zu sein. Und das Fragen nach ihrem Platz zwischen den beiden Frauen: Wenn wir ein Kind machen würden, wer wäre der Vater? Da Paul und Max tot sind, wo ist der Mann? Wer ist der Mann? Du? Ich? Ein Fremder? Existiert der Mann? Wer kann erkennen, wer kann wissen? Wer kann uns – mir – ein Kind machen? Du? Ich? Niemand? Wenn uns jetzt ein Kind geboren wird, würde es seinen Vater nicht kennen: Wer ist der Vater? Eine intensive Komplizenschaft, die den Mann »erfaßt«, taucht zwischen den beiden Frauen auf, dermaßen, daß das »Paar« Mutter / Tochter 1927 den fünfundzwanzigsten Jahrestag des … Paares Martha / Paul feiert. Hannah ist zu diesem Zeitpunkt einundzwanzig Jahre alt und arbeitet an ihrer Dissertation in Heidelberg.

      1920 heiratet Martha Martin Beerwald, einen Geschäftsmann, Witwer und Vater zweier Töchter, Clara und Eva. Die Beziehung Hannahs zu dieser Schwiegerfamilie und insbesondere zu ihrem Schwiegervater ist, wie man sich vorstellen kann, stürmisch. Sie entzieht sich durch eine ausgesprochene Neigung zu »wilderen Eskapaden«16: jugendliche Version des Lebens, wo Begehren und Freundschaft sich vermengen? Eine glühende Freundschaft verbindet sie mit Anne Mendelssohn, Nachfahrin des Komponisten Felix Mendelssohn (Enkel von Moses Mendelssohn, Haupt der gesellschaftlichen und kulturellen Emanzipation der Juden in der Zeit der Aufklärung) und Freundin von Ernst Grumbach. Fünf Jahre älter als sie, hört dieser junge Mann die Vorlesungen von Heidegger und überträgt auf Hannah seine Begeisterung für den glänzenden Marburger Professor. Anne ist es, die einige Jahre später ihrer Freundin die seltenen Ausgaben der Schriften von Rahel Varnhagen schenkt, deren »Leben« Hannah Arendt schreiben wird.

      Mittlerweile sind die zahlreichen Freunde von der intellektuellen Lebhaftigkeit und der Gelehrsamkeit Hannahs beeindruckt. Doch gerät sie in Streit mit einem Lehrer ihrer »Luisenschule« und wird von dort verwiesen! Wie immer ergreift die Mutter ihre Partei, die unruhige Schülerin wird das Abitur als freie Kandidatin ablegen, was ihr 1924 (ein Jahr vor ihrer Klasse) so glänzend gelingt, daß sie die Goldmünzen mit dem Abbild des Herzogs Albrechts I. von Preußen erhält.17 Nachdem Anne nach Allenstein gegangen ist, wird Hannah die Freundin von Ernst Grumbach: Dies ist Anlaß zu heftigem Klatsch, aber auch – immer wieder das Leben! – zum Schönerwerden und Sich-Entfalten. Und das mit Zustimmung ihrer Mutter – die Hannah Arendt im Interview mit Gauss als eine »spezifisch jüdische Menschlichkeit« verkörpernde Person beschreibt, mit ihrem »Außerhalb-aller-gesellschaftlichen-Bindungen-Stehen« sowie »völliger Vorurteilslosigkeit«.18 Wir werden auf den Arendtschen Gedanken eines »Akosmismus« des jüdischen Volkes zurückkommen, der frei ist von Territorien und politischen Begriffen und als Kontrapunkt zu diesem Mangel »eine besondere Wärme« entwickelt, die allerdings nach der Gründung des Staates Israel vom Verschwinden bedroht ist.

      In Berlin stößt die sich leidenschaftlich für Kierkegaard interessierende Theologiestudentin schnell auf eine Aporie: »Ich hatte dann nur Bedenken, wie man das denn nun macht, wenn man Jüdin ist. Und wie das vor sich geht?«19 Sie entscheidet sich, alles Interessante zu hören, was in den Universitäten des Landes an Philosophie gelehrt wird: daher Marburg und Heidegger (1889–1976). »Das Gerücht sagte es ganz einfach: Das Denken ist wieder lebendig [sic] geworden, die totgeglaubten Bildungsschätze der Vergangenheit werden zum Sprechen gebracht, wobei sich herausstellt, daß sie ganz andere Dinge vorbringen, als man mißtrauisch vermutet hat. Es gibt einen Lehrer; man kann vielleicht das Denken lernen […]; die Vorstellung von einem leidenschaftlichen Denken, in dem Denken und Lebendigsein eins [sic] werden«, befremdet einigermaßen. »Dies Denken, das als Leidenschaft aus dem einfachen Faktum des In-die-Welt-geboren-seins aufsteigt und nun ›dem Sinn nachdenkt, der in allem waltet, was ist‹, kann so wenig einen Endzweck […] haben wie das Leben selbst.«20

      Begeistert und sprudelnd vor Lebendigkeit verliebt sich Hannah, »die Grüne« genannt – sie trug oft ein schönes Kleid dieser Farbe –, in den Professor, der seinerseits leidenschaftlich angezogen wird durch ihre Schönheit und die Tiefe ihres Denkens. Die geheime Idylle beginnt im Februar 1924; Hannah ist achtzehn Jahre alt, Martin Heidegger fünfunddreißig. Der vor kurzem publizierte Briefwechsel von Hannah Arendt und Heidegger ergänzt das polemische Buch von Elzbieta Ettinger und ermöglicht es, die Kraft dieser Verbindung nachzuvollziehen, der nur noch ihre eigene Unmöglichkeit gleichkommt.21 Heidegger, mit Elfriede verheiratet – einer dynamischen Frau mit nationalsozialistischer Gesinnung und dabei einigermaßen »feministisch« – und Vater von zwei Söhnen, hat keineswegs die Absicht, sich scheiden zu lassen. Dennoch beseelt eine intensive Leidenschaft den Professor. So kann man folgenden


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