Der Fall Deruga. Ricarda Huch

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Der Fall Deruga - Ricarda Huch


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Mark. Sie sehen, ich könnte auf der Stelle nach Prag reisen, wenn ich es nicht vorzöge, in Ihrer angenehmen Vaterstadt zu bleiben.“

      „Warum bezahlten Sie Ihre Schulden nicht, wenn Sie Geld hatten?“ rief der Staatsanwalt, dessen Stimme, wenn er sich aufregte, einen kreischenden Ton annahm. „Oh, dazu reichte es bei weitem nicht“, lachte Deruga, „ich hatte nur soviel, um meine täglichen Bedürfnisse zu befriedigen.“

      Der Vorsitzende erklärte diese Zwischenfragen durch eine Handbewegung für beendet. „Sie bleiben also dabei, Angeklagter“, fragte er, „daß Sie zum Schein eine Fahrkarte nach München lösten? Was brachte Sie gerade auf München?“

      „Das ist eine schwierige Frage“, sagte Deruga, „hätte ich eine Karte nach Frankfurt oder Wien genommen, könnten Sie sie ebensogut stellen. Vielleicht ist ein Psychoanalytiker anwesend und könnte uns interessante Aufschlüsse über die Gedankenassoziation geben, und ob sie gefühlsbetont war oder nicht. Meine Spezialität sind Nasen-, Hals- und Rachenkrankheiten.“ „Was taten Sie, nachdem Sie die Karte gelöst hatten?“ fragte der Vorsitzende weiter.

      „Ich stellte mich an die Barriere“, erzählte Deruga, ging, als sie geöffnet wurde, an den Zug, stieg aber nicht ein, sondern ging mittels einer vorher gelösten Perronkarte zurück. Dann suchte ich die schon öfters genannte Dame auf, bei der ich bis zum Nachmittag des 3. Oktober blieb.“

      „Die Unwahrscheinlichkeiten häufen sich“, sagte Dr. Zeunemann. „Welcher Arzt wird ohne zwingende Gründe anderthalb Tage von seiner Praxis wegbleiben?“

      „Ich bin der Ansicht“, sagte Deruga, „daß nicht ich für die Praxis da bin, sondern daß die Praxis für mich da ist.“

      Ein bedenklicher Grundsatz für einen Arzt“, meinte Dr. Zeunemann.

      „Warum?“ antwortete Deruga leichthin. „Die meisten Patienten können sehr gut ein paar Tage warten, die übrigen brauchen überhaupt nicht zu kommen. Wichtige Fälle hatte ich damals noch nicht.“

      „Ihre Patienten waren allerdings nicht verwöhnt“, sagte Dr. Zeunemann. „In den letzten Jahren hatten Sie sogar eine Anzahl verloren, weil Sie nachlässig und unaufmerksam in der Führung Ihrer Praxis waren. Immerhin war es selbst an Ihnen auffallend, daß Sie außer der Zeit,ohne Abmeldung, zwei Tage abwesend waren. Sie kamen nach Ihrer eigenen Aussage, die von Ihrer Haushälterin bestätigt wurde, am 3. Oktober kurz vor vier Uhr wieder in Ihrer Wohnung an. Beiläufig sei bemerkt, daß der von hier kommende Schnellzug um drei Uhr zwanzig Minuten in Prag eintrifft.

      Ihre Sprechstunde war noch nicht vorüber, und es warteten zwei geduldige Patienten, die sich von Ihrer Hausdame mit der Aussicht auf Ihr baldiges Erscheinen hatten vertrösten lassen. Sie weigerten sich aber, diese gutmütigen Herrschaften, die einiger Rücksicht wohl wert gewesen wären, anzunehmen, weil Sie, so sagten Sie zu Ihrer Haushälterin, müde wären und sich zu Bett legen wollten. Ihr Aufenthalt bei der in ihrer Tugend so heiklen Dame muß also sehr anstrengend gewesen sein.“

      „Ich finde Frauen immer anstrengend“, sagte Deruga, „besonders wenn sie dumm sind.“

      „Nehmen wir also an“, sagte der Vorsitzende, während der Staatsanwalt die Hände rang und seine unter diabolisch geschwänzten Brauen fast verschwindenden Augen zum Himmel richtete, „daß die Ihnen befreundete Dame ebenso dumm wie tugendhaft ist! Gehen wir nun Zu einem anderen wichtigen Punkt über! Wollen Sie erzählen, wann und wie Sie von dem Inhalt des Testamentes in Kenntnis gesetzt wurden, durch welches die verstorbene Frau Swieter Sie zum Erben ihres Vermögens einsetzte!“

      „Anfang November“, sagte Deruga, „das Datum habe ich mir nicht gemerkt, durch die zuständige Behörde.“ „Sie sollen“, sagte Dr. Zeunemann, „Ihr Erstaunen und Ihre Freude lebhaft geäußert haben. Ich bemerke“, wiederholte er mit Nachdruck gegen die Geschworenen, daß andere Personen dies bezeugen: Erstaunen und Freude.“

      „Oh, edler Richter, wack‘rer Mann“, sagte Deruga lächelnd.

      „Bitte Zwischenbemerkungen zu unterlassen“, sagte der Vorsitzende. „Es ist bereits halb zwölf Uhr, und ich möchte bis zur Mittagspause mit Ihrem Verhör zu einem vorläufigen Ende kommen. Erzählen Sie uns bitte, wann und wie Ihnen zuerst etwas von dem gegen Sie erhobenen Verdacht zu Ohren kam.“

      „Durch einen sehr anständigen Menschen“, begann Deruga, „sehr anständig und achtungswert, obgleich er nur ein roher italienischer Weinhändler ist. Der Mann heißt Tommaso Verzielli und kam vor fünfzehn Jahren als ein armer Teufel zu mir, nachdem er eine fünfjährige Gefängnisstrafe verbüßt hatte. Er hatte nämlich einen Polizisten niedergestochen, der eine arme alte Frau verhaften wollte, weil sie in einem Bäckerladen ein Brot genommen hatte. Er war sehr verzagt und wollte nach Italien zurück, denn unter Deutschen, sagte er, würde er doch nicht aus dem Gefängnis herauskommen, weil er fortwährend Dinge mit ansehen müßte, wobei ihm das Blut zu Kopfe stiege. Ich sagte, das würde in Italien nicht anders sein, und redete ihm zu, er sollte die Menschen sich untereinander zerreißen lassen, sie wären einander wert, und es wäre um keinen schade. Er solle heiraten und nur noch für Frau und Kinder arbeiten und sorgen, und außerdem gab ich ihm den Rat, einen Handel mit italienischen Weinen und anderen Lebensmitteln anzufangen, und schoß ihm ein kleines Kapital dazu vor. Das hat er mir längst zurückgestellt, denn durch Fleiß und Intelligenz brachte er sich schnell in die Höhe, aber er widmet mir immer noch eine Dankbarkeit, als ob ich ihm täglich neu das Leben schenkte.

      Dieser Verzielli also kam Mitte November am späten Abend in voller Aufregung zu mir gelaufen und erzählte mir, der italienische Konsul, Cavaliere Faramengo, ein guter alter Herr, aber etwas schwachsinnig, sei bei ihm gewesen — Verzielli hat nämlich jetzt ein sehr feines Restaurant — und habe sich unter der Hand nach mir erkundigt und als tiefstes Geheimnis verraten, daß ich als Mörder meiner geschiedenen Frau verhaftet werden sollte. Der gute Mensch war außer sich und bot mir sein ganzes Vermögen an, wenn ich nach Amerika fliehen wollte. ,Deruga und fliehen? Da kennst du Deruga schlecht, guter Freund‘, sagte ich und lief sofort, trotz Verziellis Flehen, zum italienischen Konsul. Der arme alte Herr hat fast einen Schlaganfall bekommen, so heftig stellte ich ihn zur Rede, und da ich von ihm keine genügende Auskunft bekam, reiste ich hierher, um den Ursprung des infamen Gerüchts kennenzulernen.“

      „Es mußte Ihnen mitgeteilt werden“, fiel Dr. Zeunemann ein, „daß das Gericht bereits beschlossen hätte, die Anklage auf Mord gegen Sie zu erheben, und daß Sie eine etwaige Beleidigungsklage bis zur Beendigung des Prozesses zu verschieben hätten. Wenn Ihr erstes Auftreten, wie ich nicht unterlassen will zu bemerken, den Schein der Schuldlosigkeit erwecken konnte, so belastete Sie hingegen Ihr Verhalten dem Untersuchungsrichter gegenüber in bedenklicher Weise. So haben Sie zuerst auf die Frage, wo Sie vom 1. bis 3. Oktober gewesen wären, die Antwort verweigert. Dann haben Sie erzählt, Sie wären in der Absicht, sich das Leben zu nehmen, fortgefahren, an einem beliebigen Haltepunkt ausgestiegen und dann aufs Geratewohl querfeldein gegangen, bis Sie in eine ganz einsame Gegend gekommen wären. An einem Flusse hätten Sie lange gelegen und mit sich gekämpft, bis Sie darüber eingeschlafen wären. Nach vielen Stunden festen Schlafes wären Sie ernüchtert aufgewacht, hätten sich noch eine Weile herumgetrieben und wären dann heimgefahren. Schließlich tauchte die Geschichte von der geheimnisvollen Dame auf. Der Born der Phantasie sprudelt sehr ergiebig bei Ihnen.“

      „Nicht so, wie Sie meinen“, sagte Deruga. Ich wollte nur den Untersuchungsrichter ärgern und kann wohl sagen, daß mir das gelungen ist. Er hat beinah’ Nervenkrämpfe bekommen.“

      Dr. Zeunemann ließ eine Pause verstreichen, bis das Gelächter im Publikum verstummt war, und sagte dann: „Es wundert mich, daß ein Mann in Ihrer Lage, in Ihrem Alter und von Ihrem Verstande sich so kindisch benehmen mag — oder so töricht, denn vielleicht waren Ihre verschiedenen Angaben auch nur ein Verfahren, darauf zugeschnitten, unsicher zu machen und irrezuführen.“

      „Sind Sie schon einmal von einem täppischen Untersuchungsrichter ausgefragt worden?“ fragte Deruga. „Nein, wahrscheinlich nicht. Also können Sie nicht wissen, wie Sie sich in solcher Lage benehmen würden. Allerdings vermutlich vernünftiger als ich. Sie haben eine beneidenswerte Konstitution. Sie sind so recht


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