Aristoteles: Metaphysik, Nikomachische Ethik, Das Organon, Die Physik & Die Dichtkunst. Aristoteles
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an aufs innigste verwachsen. Darum ist es auch so schwer, diese im Verlauf des Lebens so tief eingedrungene Färbung wieder wegzuwischen. Und in der Tat, wir regeln unsere Handlungsweise, die einen mehr, die anderen weniger, nach dem Motiv von Lust und Unlust. Daraus erhellt die Notwendigkeit, unsere ganze Untersuchung sich um diesen Punkt drehen zu lassen. Denn für das tätige Leben ist es keineswegs von geringer Bedeutung, ob man Lust oder Unlust im rechten oder im falschen Sinne empfindet. Zudem, es ist, wie schon Heraklit sagt, eine schwierigere Aufgabe, gegen das Streben nach Lust, als gegen den Zorn anzukämpfen: alle Kunstfertigkeit aber und alle Tüchtigkeit zeigt sich jedesmal der größeren Schwierigkeit gegenüber, und hier ist das richtige Benehmen auch verdienstlicher. Daher beschäftigt sich schon aus diesem Grunde die ganze Untersuchung sowohl was den Wert des einzelnen wie was das staatliche Leben betrifft mit der Frage von Lust und Unlust. Denn, wer sich diesen gegenüber in rechter Weise verhält, der ist ein tüchtiger, und wer sich verkehrt dazu stellt, der ist ein verkehrter Mensch.
Damit mag soviel ausgemacht sein, erstens, daß sittliche Tüchtigkeit es mit Lust und Unlust zu tun hat, zweitens, daß sie durch eben die Übung, durch die man sie erlangt, auch zunimmt und wieder verloren geht, wenn man nicht stetig in gleicher Weise dabei bleibt, und drittens, daß sie sich auf eben dem Gebiete wirksam bewährt, auf dem sie ihren Ursprung genommen hat.
Nun kann es wohl Bedenken erregen, in welchem Sinne wir behaupten, man müsse gerecht werden dadurch, daß man gerecht, und besonnen dadurch, daß man besonnen handelt. Gehört doch dazu, daß einer gerechte und besonnene Handlungen vollzieht, daß er schon gerecht und besonnen sei, gerade wie derjenige, der in korrekter Weise spricht oder musiziert, schon im Besitze der Sprachrichtigkeit und der Tonkunst sich befindet. Indessen, ist das vielleicht auch in den technischen Fertigkeiten nicht der Fall? Ist es doch ganz wohl möglich, daß einer sich im Reden und Schreiben korrekt benimmt, durch bloßen Zufall oder unter fremder Anleitung; er wird also ein sprachkundiger Mann erst dann sein, wenn er zugleich sprachlich korrekt und wie ein sprachkundiger Mann verfährt, und dies letztere bedeutet, daß es vermöge der in ihm lebenden Sprachkunde geschieht.
Aber die Analogie zwischen den technischen Vermögen und den sittlichen Beschaffenheiten läßt sich auch sonst nicht durchführen. Denn wo es sich um technische Fertigkeiten handelt, da hat das zustande gekommene Werk seine Angemessenheit in sich, und es genügt also, daß es so zustande kommt, daß es diese Eigenschaft irgendwie an sich trägt. Dagegen wo es sich um sittliche Betätigung handelt, da wird das Vollbrachte nicht schon dann etwa im Sinne der Gerechtigkeit oder der Besonnenheit vollbracht, wenn es diese Eigenschaften irgendwie an sich trägt, sondern es gehört dazu auch dies, daß der Handelnde auf Grund einer gewissen Form seiner Innerlichkeit tätig werde, und zwar zunächst, daß er mit Wissen, sodann daß er mit Vorsatz und zwar aus sachlichem Grunde, endlich drittens, daß er auch auf Grund einer zuverlässigen und unerschütterlichen Gesinnung seine Handlung vollziehe. Von alledem wird bei den anderen, den technischen Fertigkeiten nichts mit in Rechnung gestellt, ausgenommen das Wissen selber. Für die sittlichen Betätigungsweisen dagegen bedeutet das bloße Wissen wenig oder nichts, während die beiden übrigen Bedingungen hier nicht ein geringes, sondern geradezu alles bedeuten, und diese gelangen in unsere Gewalt eben durch das häufige Vollbringen gerechter und besonnener Handlungen. Handlungen werden also als gerecht und besonnen bezeichnet, wenn sie so vollbracht werden, wie ein gerechter oder besonnener Mann sie vollbringen würde. Und gerecht und besonnen ist nicht schon, wer solche Handlungen vollbringt, sondern erst, wer sie so vollbringt, wie Männer von gerechtem und besonnenem Charakter sie vollbringen. Und so sagt man denn mit Recht, daß man gerecht wird durch Vollbringen gerechter und besonnen durch Vollbringen besonnener Handlungen. Dagegen auf Grund dessen, daß man solche Handlungen nicht vollbringt, würde kein Mensch auch nur eine Aussicht haben, ein guter Mensch zu werden. Allein die Menschen im allgemeinen ziehen es vor, sich lieber nicht in solchen Handlungen zu üben; indem sie zu moralisierender Erörterung flüchten, meinen sie zu philosophieren und auf diesem Wege zur Charaktertüchtigkeit zu gelangen. Sie machen es wie die Patienten, die zwar genau aufpassen, was der Arzt sagt, aber nichts von dem befolgen, was er verordnet. Geradeso wenig nun wie solche Patienten durch diese Art sich kurieren zu lassen zu leiblichem Wohlbefinden gelangen, erreichen jene durch diese Weise zu philosophieren eine angemessene geistige Verfassung.
3. Verstandesbildung und Fertigkeit
Die Frage ist nunmehr: was ist denn sittliche Willensbeschaffenheit? Da, was uns an Begehrungsvorgängen in der Seele begegnet, von dreierlei Art ist: vorübergehende Affekte, Neigungen und befestigte Eigenschaften, so wird die sittliche Beschaffenheit wohl zu einer dieser Klassen gehören müssen. Unter Affekten verstehe ich Begehren, Zorn, Furcht, Mut, Neid, Freude, Liebe, Haß, Sehnsucht, Eifersucht, Mitleid, überhaupt solches, was von Gefühlen der Lust oder Unlust begleitet ist; unter Neigungen das wodurch wir für solche Affekte empfänglich, also z.B. geneigt heißen, in Zorn, Unlust, Mitleid zu geraten; unter befestigten Willensrichtungen endlich die Eigenschaft, vermöge deren wir uns den Affekten gegenüber richtig oder falsch verhalten; z.B. der Erregung zum Zorn gegenüber ist das Verhalten falsch, wenn es übergroße Heftigkeit oder Schlaffheit zeigt, und recht, wenn es die Mitte innehält, und ebenso den anderen Affekten gegenüber. Nun darf man weder die löblichen noch die verwerflichen Beschaffenheiten zu den Affekten zählen; denn nicht auf Grund seiner Affekte nennt man einen tüchtig oder untüchtig, wohl aber auf Grund seiner sittlichen und seiner unsittlichen Haltung, und Lob oder Tadel wird uns nicht auf Grund unserer Affekte zuteil. Man lobt nicht einen der sich fürchtet, und nicht einen der zornig ist, und man tadelt auch nicht ohne weiteres einen der zornig ist, sondern nur den, der es in gewisser Weise ist. Dagegen lobt oder tadelt man uns auf Grund unserer sittlichen und unsittlichen Haltung. Ferner, in Zorn und Furcht geraten wir unvorsätzlich; sittliche Beschaffenheiten aber tragen den Charakter der Vorsätzlichkeit oder sind doch nicht ohne dieselbe. Außerdem, in bezug auf die Affekte spricht man von Erregung; dagegen wo es sich um sittliche oder unsittliche Beschaffenheiten handelt, da spricht man nicht von Erregung, sondern von dauernder Gesinnung. Eben deswegen sind sie aber auch keine bloßen Neigungen. Denn man nennt uns brav oder schlecht, man lobt oder tadelt uns nicht ohne weiteres, weil wir für gewisse Affekte empfänglich sind. Und endlich, die Neigung haben wir durch Naturanlage, aber gut oder schlecht sind wir nicht von Natur. Darüber haben wir schon oben gehandelt. Sind nun die sittlichen Beschaffenheiten weder Affekte noch Neigungen, so bleibt nur übrig, daß sie befestigte Willensrichtungen sind.
Damit wäre denn bezeichnet, was die sittliche Willensbeschaffenheit ihrer Gattung nach ist. Es gilt aber nicht bloß zu sagen, daß sie eine befestigte Willensrichtung ist, sondern auch was für eine sie ist. Da ist nun zu sagen, daß jegliche wertvolle Beschaffenheit das Wesen selbst dessen Beschaffenheit sie ist als in rechter Verfassung befindlich darstellt und auch seine Betätigung als die rechte bezeichnet. So besteht die Tüchtigkeit des Auges darin, das Auge selbst wertvoll zu machen und ebenso seine Leistung; denn wenn wir gut sehen, so geschieht es durch die Tüchtigkeit des Auges. Ebenso macht die Tüchtigkeit des Pferdes das Pferd zu einem brauchbaren, so daß es wacker läuft, den Reiter trägt und den Feinden standhält. Verhält sich das nun so bei allen Dingen, so wird insbesondere die Tüchtigkeit eines Menschen diejenige befestigte Willensrichtung sein, vermittels deren er ein guter Mensch wird und seine Betätigung in rechter Weise vollzieht. Worin nun dies besteht, haben wir bereits dargelegt; es läßt sich aber auch so zeigen, daß wir näher ins Auge fassen, was die eigentliche Natur dieser Willensrichtung ausmacht.
Bei jedem ausgedehnten und teilbaren Dinge kann man ein Zuviel oder Zuwenig und ein rechtes Maß unterscheiden, und dies entweder in Hinsicht der Sache selbst oder in der Beziehung auf uns. Das rechte Maß liegt in der Mitte zwischen dem Zuviel und Zuwenig. Unter der Mitte eines Gegenstandes verstehe ich das, was von jedem der beiden Enden gleichen Abstand hat, und das gilt für alle Gegenstände als eines und dasselbe. In bezug auf uns aber bedeutet die rechte Mitte das, was weder zuviel noch zuwenig ist: das aber ist keineswegs bei allen eines und auch nicht dasselbe. So, wenn zehn viel, zwei aber wenig ist, so nimmt man in Hinsicht auf die Sache als die Mitte sechs an, weil es um ebensoviel das eine übertrifft, wie es vom anderen übertroffen wird;