Zweiundzwanzig Bücher über den Gottesstaat, Band 1. Augustinus von Hippo

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Zweiundzwanzig Bücher über den Gottesstaat, Band 1 - Augustinus von Hippo


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bleibt, die Keuschheit verliere, wenn etwa an dem in fremde Gewalt gekommenen und überwältigten Leib ein anderer seine und nur seine Lust ausübt und befriedigt? Ginge auf diesem Wege die Keuschheit unter, so wäre sie ja gar nicht eine Tugend der Seele und gehörte nicht zu den Gütern, die das gute Leben begründen, sondern sie wäre zu den leiblichen Gütern zu zählen, wie die Kraft, die Schönheit, die Gesundheit; Güter, deren Abnahme doch in keiner Weise einem guten und rechten Leben Eintrag tut. Wenn die Keuschheit zu dieser Art von Gütern gehört, warum müht man sich zu ihren Gunsten, um sie nicht zu verlieren, selbst mit Gefahr des Lebens ab? Ist sie aber ein Gut der Seele, so geht sie auch bei Vergewaltigung des Leibes nicht verloren. Man muß sogar noch weiter gehen und sagen: Wenn das Gut der heiligen Enthaltsamkeit den unreinen Begierden des Fleisches nicht nachgibt, so wird auch der Leib geheiligt; wenn also die Enthaltsamkeit in unerschütterlicher Gesinnung dabei verharrt, den Begierden nicht nachzugeben, so geht nicht einmal dem Leibe die Heiligkeit verloren, da der Wille, ihn in heiliger Absicht zu gebrauchen, und, soweit es auf den Leib ankommt, auch die Fähigkeit dazu andauert.

      Denn nicht dadurch ist der Leib heilig, daß seine Glieder unversehrt sind, noch auch dadurch, daß sie keiner Berührung ausgesetzt werden; können sie ja doch auch durch allerlei Zufälle verwundet werden und Gewalt leiden und die Ärzte nehmen zuweilen im Interesse der Gesundheit an ihnen Dinge vor, vor deren Anblick man schaudert. Eine Hebamme untersuchte mit der Hand die Jungfrauschaft eines Mädchens und verletzte sie dabei aus Böswilligkeit oder Unachtsamkeit oder Zufall. Ich glaube, es wird niemand so töricht sein, zu meinen, diese Jungfrau habe auch nur an Heiligkeit des Leibes etwas eingebüßt, obwohl ihr die Unversehrtheit jenes Körperteiles abhanden kam. Wenn also der feste Wille bestehen bleibt, durch den auch der Leib zur Heiligung emporgehoben wird, so benimmt der Ungestüm fremder Begierde nicht einmal dem Leib die Heiligkeit, da diese durch die Fortdauer seiner Enthaltsamkeit gewahrt wird. Umgekehrt, wenn sich ein Weib, das im Herzen verdorben ist und das gottgeweihte Gelübde gebrochen hat, zu ihrem Verführer begibt, um sich schänden zu lassen, nennen wir etwa ein solches in dem Augenblick, da sie sich zu dem genannten Zweck dorthin begibt, auch nur dem Leibe nach heilig, da doch bereits die Heiligkeit der Seele, worauf die des Leibes beruht, verloren gegangen und zernichtet ist? Gewiß nicht! Und daraus mögen wir die Lehre ziehen, daß die Heiligkeit des Leibes ebenso bestimmt nicht verloren geht, auch nicht bei Vergewaltigung des Leibes, solang die Heiligkeit der Seele bestehen bleibt, wie sie nach Verletzung der Heiligkeit der Seele auch dann verloren geht, wenn der Leib unversehrt ist. Deshalb hat eine Frau, wenn sie ohne jede Einwilligung von ihrer Seite gewaltsam mißbraucht und durch fremde Sünde geschwächt wird, keine Schuld, die sie an sich mit freiwilligem Tode strafen könnte; wieviel weniger vor der Tat! Da würde ja ein sicherer Mord begangen zu einer Zeit, da das Verbrechen, und zwar das eines andern, noch gar nicht sicher ist.

      

       19. Der Selbstmord der Lucretia wegen Vergewaltigung.

      

      Werden etwa die, gegen welche wir nicht nur die seelische, sondern auch die leibliche Heiligkeit der in der Gefangenschaft vergewaltigten christlichen Frauen behaupten, dieser einleuchtenden Beweisführung zu widersprechen wagen, worin wir dargetan haben, daß bei Vergewaltigung eines Leibes, wenn nur der Vorsatz der Keuschheit nicht durch Zustimmung zur Sünde irgendwie zu Fall kommt, das Verbrechen lediglich auf Seiten dessen liegt, der den Beischlaf mit Gewalt erzwingt, nicht aber auf Seiten der Frau, die in den erzwungenen Beischlaf mit keiner Willensregung einwilligt? Sie rühmen freilich gar hoch ihre Lucretia, eine vornehme Römerin der alten Zeit. Als sich der Sohn des Königs Tarquinius ihres Leibes unter Vergewaltigung bemächtigte, seine Lust zu büßen, zeigte sie die Schandtat des verworfenen jungen Mannes ihrem Gemahl Collatinus und ihrem Verwandten Brutus an, zwei rühmlich bekannten und tapferen Männern, und nahm ihnen das Versprechen ab, sie zu rächen. Danach beging sie Selbstmord, da sie den Kummer über den an ihr verübten Frevel nicht ertragen konnte. Was ist dazu zu sagen? Soll man sie für eine Ehebrecherin oder für eine keusche Frau halten? Wer möchte sich mit dieser Frage den Kopf zerbrechen? Trefflich und der Wahrheit entsprechend hat jemand darauf das Wort geprägt: „Sonderbar, zwei waren es und nur einer hat den Ehebruch begangen“. Sehr schön und sehr wahr. Er sah bei der Vermischung der zwei Leiber auf die unreine Begierde des einen und den keuschen Sinn der andern und faßte nicht das ins Auge, was durch Vereinigung der Leiber geschah, sondern das, was in den ungleichen Seelen vor sich ging, und konnte so sagen: „Zwei waren es und nur einer hat den Ehebruch begangen“.

       Aber wie kommt es, daß die, die den Ehebruch nicht begangen hatte, eine schwerere Strafe davontrug? Der Wüstling wurde nämlich mitsamt seinem Vater verbannt, die Frau aber traf die härteste aller Strafen. Wenn Erleiden von Vergewaltigung keine Unkeuschheit, so ist Bestrafung einer keuschen Frau keine Gerechtigkeit. Euch rufe ich auf, römische Richter und Gesetze! Ihr wolltet ja unter Strafe bei vorfallenden Verbrechen nicht einmal den Übeltäter, bevor er verurteilt wäre, dem Tod überliefert wissen. Brächte man also dieses Verbrechen vor euer Gericht und bewiese man euch, daß hier ein Weib nicht nur ohne vorgängiges Urteil, sondern selbst ein keusches und schuldloses Weib zu Tode gebracht worden sei, würdet ihr den, der das getan, nicht mit gebührender Strenge strafen? Das hat Lucretia getan, ja, die vielgepriesene Lucretia hat die schuldlose, keusche, vergewaltigte Lucretia auch noch getötet. Fället das Urteil! Könnt ihr das nicht, weil die Schuldige nicht vor Gericht steht, warum rühmt ihr dann mit soviel Preisen die Mörderin einer schuldlosen und keuschen Frau? Und doch könnt ihr sie bei den Richtern der Unterwelt, wären sie auch von der Art, wie sie in den Liedern eurer Dichter besungen werden, durchaus nicht verteidigen, da sie unter denen ihren Platz hat[50] ,

      „welche den Tod sich

       Schuldlos gaben mit eigener Hand und, müde des Lebens,

       Von sich warfen den Geist“;

      und wenn sie zur Oberwelt zurückzukehren verlangt, so

      „Steht ihr entgegen das Göttergesetz, und des widrigen Sumpfes

       Düster Gewässer hält sie gebannt“.

      Oder ist sie vielleicht deshalb nicht in der Oberwelt, weil sie nicht frei von Schuld, sondern mit schlechtem Gewissen Selbstmord verübt hat? Wie wenn sie[51] dem jungen Mann, der ja freilich gewalttätig über sie herfiel, auch durch eigene Lust gereizt zustimmte und sich darüber so heftige Vorwürfe machte, daß sie die Sünde durch den Tod sühnen zu sollen vermeinte? Freilich auch dann hätte sie nicht Selbstmord zu üben gebraucht, wenn sie vor ihren falschen Göttern fruchtbare Buße hätte tun können. Jedoch wenn es etwa so ist und der Ausspruch: „Zwei waren es und nur einer beging den Ehebruch“ nicht zutrifft, sondern beide Ehebruch begangen haben, der eine durch offenbare Gewalt, die andere durch heimliche Zustimmung, so hat sie nicht an einer Schuldlosen Selbstmord verübt und ihre gelehrten Verteidiger können demnach behaupten, daß sie in der Unterwelt nicht beigereiht wurde denen, „welche den Tod sich schuldlos gaben“. Die ganze Sache spitzt sich eben darauf zu: Entschuldigt man den Mord, so bestätigt man den Ehebruch; leugnet man den Ehebruch, so belastet man umso mehr den Mord; man findet überhaupt keinen Ausweg aus dem Dilemma: „War sie ehebrecherisch, warum rühmt man sie? War sie keusch, warum tötete sie sich?“

       Uns jedoch genügt zur Zurückweisung derer, die, der Vorstellung heiliger Gesinnung unfähig, die in der Gefangenschaft vergewaltigten christlichen Frauen verspotten, es genügt uns an dem berühmten Beispiel dieser Frau der Hinweis auf das, was man zu deren Ruhm und Verherrlichung sagt: „Zwei waren es und nur einer hat den Ehebruch begangen“. Man hat nämlich bei Lucretia gerne angenommen, daß sie sich nicht durch ehebrecherische Einwilligung habe beflecken können. Wenn sie also ob der Notzüchtigung, obgleich nicht Ehebrecherin, Selbstmord verübt hat, so tat sie das nicht aus Liebe zur Keuschheit, sondern aus schwächlicher Scham. Sie schämte sich fremder Schandtat, an ihr, nicht mit ihr begangen, und dieses römische Weib, nach Ruhm mehr als begierig, fürchtete, wenn sie am Leben bliebe, in der öffentlichen Meinung als eine Frau zu gelten, die gern über sich ergehen ließ, was sie gewaltsam über sich hatte ergehen lassen. Darum glaubte sie zum Zeugnis ihrer Gesinnung jene Strafe den Menschen vor Augen halten zu sollen, da


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