Tropenkoller. Georges Simenon

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Tropenkoller - Georges  Simenon


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      Vor allem aber dachte er an Adèle. Als er selbst erst sieben Jahre alt gewesen war, hatte sie schon Renaud geholfen, Mädchen für Südamerika zu beschaffen. Sie war Renaud nach Gabun gefolgt, zu einer Zeit, als an der Küste nur Holzhütten standen. Sie hatten sich im Wald niedergelassen, als einzige Weiße weit und breit, hatten Bäume gefällt und die Stämme den Fluss hinuntertreiben lassen.

      Einfältige Bilder drängten sich vor Timars inneres Auge, Illustrationen aus Büchern von Jules Vernes, unter die sich hier und da ein wenig Wirklichkeit mischte. Er folgte dem weiten Weg aus roter Erde, der am Meer entlangführte, und sah, wie sich die Kokospalmen vom Himmel und von dem bleiernen Grau der Wasseroberfläche abhoben. Keine einzige Welle, nur ein leichtes Kräuseln war am Flutsaum zu sehen. Halb nackte Männer mit buntem Lendenschurz standen um die Pirogen der Fischer herum, die gerade zurückgekommen waren.

      Der Fluss war dort hinten, kaum einen Kilometer entfernt, am Ende der Bucht. Allerdings hatte es zu Adèles und Eugènes Pionierzeit in all dem Grün noch nicht die roten Dächer der Faktoreien und der Büros des Gouverneurspalais gegeben.

      Sie trug damals sicher Stiefel und einen Patronengürtel und bestimmt kein Kleid aus schwarzer Seide auf ihrer nackten Haut. Während er weiterging, suchte er Schatten, aber dort war es genauso heiß wie in der Sonne. Es war die Luft, die alles versengte, selbst die Kleider waren so heiß, dass man sie kaum anfassen konnte. Und früher hatte es weder Ziegelmauern noch Eis zum Kühlen der Getränke gegeben.

      Nach acht Jahren waren Adèle und Renaud trotz des Einreiseverbots mit sechshunderttausend Franc nach Frankreich zurückgekehrt und hatten das Geld in wenigen Monaten ausgegeben, verjubelt, wie der Kommissar sagte.

      Wofür? Was für ein Leben hatten sie geführt? An welchen Orten hätte der halbwüchsige Timar ihnen begegnen können?

      Sie waren wiedergekommen. Sie waren wieder in den Wald gezogen. Der Mann war zweimal an Hämaturie erkrankt, und Adèle hatte ihn gepflegt.

      Erst vor drei Jahren hatten sie das Central gekauft.

      Und eines Morgens hatte Timar diese Frau auf dem schweißnassen Bett in den Armen gehalten.

      Er wagte nicht, seinen Tropenhelm abzunehmen und sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. Es war Mittag, und er ging allein, mutterseelenallein, die glühend heiße Straße entlang.

      Der Kommissar hatte ihm noch andere Geschichten erzählt, ohne sich zu empören, nur wenn er fand, dass die Leute übertrieben, hatte er ärgerlich gebrummt.

      So war es bei dem Pflanzer, der vor einem Monat seinen Koch an den Füßen über einer Wasserschüssel aufgehängt hatte, weil er glaubte, dass dieser ihn vergiften wollte. Hin und wieder lockerte er den Strick, und der Kopf tauchte in die Schüssel. Schließlich hatte er eine gute Viertelstunde lang vergessen, den Schwarzen wieder hochzuziehen, und er war tot.

      Der Prozess lief. Der Völkerbund hatte sich eingeschaltet. Und schon war wieder ein Eingeborener ermordet worden!

      »Man wird sie nicht davonkommen lassen«, hatte der Kommissar erklärt.

      »Wen?«

      »Die Mörder.«

      »Und in den anderen Fällen?«

      »Fast immer findet sich eine Lösung.«

      Was hatte Adèle während des Festes nachts draußen gemacht? Und warum hatte sie Thomas ein paar Stunden zuvor ins Gesicht geschlagen? Timar hatte nichts gesagt. Er würde auch nicht darüber sprechen. Aber hatte niemand sonst sie von draußen hereinkommen sehen?

      Wieder verlief er sich und musste umkehren. Schließlich betrat er das Hotel, wo an diesem Mittag das Klappern der Bestecke nicht wie üblich von Stimmengemurmel begleitet wurde. Alle blickten ihn an. Er bemerkte, dass Adèle nicht da war, und setzte sich an seinen Tisch.

      Der Boy war neu und noch sehr jung. Jemand zupfte Timar am Ärmel, und als er sich umwandte, erkannte er einen der Holzfäller, den Kräftigsten unter ihnen, der aussah wie ein Metzger.

      »Das war’s!«

      »Was?«

      Er wies zur Decke.

      »Er ist gerade gestorben. Übrigens, was hat er Ihnen gesagt?«

      Das ging ihm alles zu schnell, besonders an diesem betäubend heißen Mittag. Vergeblich bemühte sich Timar, seine Gedanken zu ordnen, und merkte, wie lächerlich seine Frage war:

      »Wer?«

      »Der Kommissar! Er hat Sie als Ersten vorgeladen, weil er sich dachte, ein Neuer lässt sich leichter grillen. Heute Nachmittag oder morgen sind wir an der Reihe.«

      Niemand hörte auf zu essen, aber die Blicke aller waren auf Timar gerichtet, der nicht wusste, was er sagen sollte, weil er immerzu an den Toten dort oben denken musste, bei dem Adèle sicherlich wachte, und an die Geschichten des Kommissars.

      »Meinen Sie, er weiß etwas?«

      »Schwer zu sagen. Ich habe erklärt, dass ich nichts gesehen habe.«

      »Aha! Gut.«

      Das rechnete man ihm also an. Man betrachtete ihn jetzt wohlwollender. Also wussten diese Leute, dass er etwas wusste? Wussten sie also auch etwas?

      Timar errötete, aß eine Wurstscheibe und hörte sich zu seinem eigenen Erstaunen sagen:

      »Hat er sehr gelitten?«

      Dann merkte er, dass er diese Frage nicht hätte stellen dürfen, dass der Todeskampf schrecklich gewesen sein musste.

      »Dumm, dass es gleich nach der Affäre mit dem Erhängten passiert ist«, sagte der einäugige Holzfäller.

      Sie hatten auch daran gedacht. Alle hatten daran gedacht. Letztendlich hielten sie sich alle an die Spielregeln, und sie alle sahen Timar neugierig und misstrauisch an, weil er an dem Spiel nicht beteiligt war.

      Oben im Zimmer hörte man Schritte. Eine Tür wurde geöffnet und wieder geschlossen. Jemand kam die Treppe herunter.

      Adèle Renaud durchquerte das totenstille Lokal, ging zur Theke und nahm den Telefonhörer ab.

      Sie sah aus wie immer, eingeschlossen die Brüste, die sich deutlich unter der Seide des Kleides abzeichneten. Die Feststellung war kindisch, trotzdem war es das, was Timar am meisten störte, als gehörte es zur Trauer, Unterwäsche zu tragen.

      »Hallo! … Die Fünfundzwanzig, ja … Hallo! … Ist Oskar nicht da? … Ja, ich bin es … Sobald er zurückkommt, sagen Sie ihm bitte, dass es vorbei ist und er kommen und das Nötige erledigen soll … Der Arzt will nicht, dass die Leiche länger als bis morgen Mittag hierbleibt … Nein, danke … es ist alles in Ordnung.«

      Nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte, stützte sie sich eine Weile mit den Ellenbogen auf die Bar, das Kinn in den Händen, und blickte starr vor sich hin. Dann sagte sie, ohne sich dem Boy richtig zuzuwenden:

      »Na los, wann räumst du endlich den Tisch dort hinten ab?«

      Sie öffnete eine Schublade, schloss sie wieder, wollte schon hinausgehen, besann sich dann aber eines anderen und lehnte sich wieder an die Bar, das Kinn in die gefalteten Hände gestützt. Am Tisch der Holzfäller rief jemand:

      »Wird er morgen beerdigt?«

      »Ja. Der Doktor behauptet, es sei nicht ratsam, ihn länger hierzubehalten.«

      »Wenn Sie Hilfe brauchen …«

      »Danke! Es ist schon alles vorbereitet. Der Sarg wird bald gebracht.«

      Dabei sah sie Timar an. Er spürte ihren Blick und wagte nicht, die Augen zu heben.

      »Waren Sie beim Kommissar, Monsieur Timar? War er sehr unangenehm?«

      »Nein … Ich … Er kennt meinen Onkel, der Departementsrat ist, und er …«

      Er verstummte, denn wieder spürte er um sich herum diese spöttische, aber durchaus respektvolle Neugier, die ihn verwirrte. Gleichzeitig


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